Der Intendant der Münchner Kammerspiele, Johan Simons, war begeistert: "Das ist eine großartige Arbeit", sagte er nach der Aufführung der "Blutnacht" in einer Lagerhalle der aufgelassenen Papierfabrik Dachau. Simons Urteil betraf die künstlerische Qualität der Neuinszenierung dieses Stücks von KZ-Häftlingen aus dem Jahr 1943. Aber nicht nur: Mit der Dachauer Regisseurin Karen Breece verbindet ihn die Überzeugung, dass Theater mehr als nur gutes Theater zustande bringen muss. Dafür steht die eigene Regiearbeit Simons, dessen Bühne gerade von deutschsprachigen Kritikern zum Theater des Jahres gewählt wurde, aktuell seine Inszenierung von "Dantons Tod". In den Revolutionen, Kriegen - und den Lagern des 20. Jahrhunderts suchen die Grundfragen der menschlichen Existenz heute nach einer Antwort.
Dachau in seinem nachwirkenden Trauma von Schuld und Verleugnung ist einer jener europäischen Orte, an denen die Zukunft der Menschlichkeit vermessen wird - die Impulse dafür kommen von den Überlebenden des KZ-Terrors selbst, die als Maler, Schriftsteller, Tagebuch- und Memoirenschreiber Zeugnis ablegen. Die Arbeiten Dachauer Künstler selbst erscheinen da merkwürdig zurückhaltend. Das hat aber einen plausiblen Grund: Es gebe nur wenige Künstler, die solche Themen beherrschen, sagt der Dachauer Maler Heiko Klohn. Manches setzte sich da in seiner plumpen Symbolik dem Verdacht der Effekthascherei aus. Das nostalgische Kinderbett aus Erde vom KZ-Friedhof an der Leiten von Esther Glück etwa. Oder das "Glashaus für Europa" (Wolfgang Keller), ein Exponat der KVD-Ausstellung "Post für Dachau" im Jahr 2005. Die Ausstellung versuchte den Aufbruch aus dem Schweigen - stand jedoch noch unter dem Trauma, das Bild Dachaus als Stadt des Schreckens wiederzubeleben, wie eine Künstlerin befürchtete.
Vielleicht tun die bildenden Künstler aus und in Dachau gut daran, das Thema zu vermeiden, weil sie sich sonst dem Verdacht aussetzen, das Grauen des ehemaligen KZ zu instrumentalisieren. Die Gegenposition lässt sich mit diesem Argument aber nicht entkräften: Was ist das für eine weltanschauliche Position - und die drückt sich immer in Kunstwerken aus -, die ihre Fragen nach dem Sinn des Lebens nicht auf die Lager bezieht. So gibt es doch einzelne Künstler wie den Sinto Alfred Ullrich, die ihre Arbeiten auf den Massenmord an Juden und Roma beziehen. Vor allem Heiko Klohns Werk stellt radikal die Frage nach der Menschlichkeit. Florian Marschall mit seinen Zeichnungen von Barackennummern, die mit den Silhouetten Dachauer Bürger verschmelzen.
Oder Bruno Schachtner, ehemaliger Zeitgeschichtsreferent, der die Dachauer Hefte gestaltete, die Gruppe D mitbegründete und den Künstleraustausch mit Oswiecim ins Leben rief. In seinem Wirken fließen Kunst und zivilgesellschaftliches Engagement für einem aufklärerischen Umgang mit der Dachauer Geschichte zusammen. Ernsthafte Versuche, Dachau mit sich selbst zu konfrontieren, reichen weit zurück. Seit 1960 finden im Wittelsbacher Schloss von Mitgliedern der KVD organisierte Ausstellungen statt - immer wieder mit Gästen, die sich mit dem Dachau-Bild auseinander setzten. 1985 kam es zu einem Austausch mit Szentendre/Ungarn, 1989 mit Worpswede, 1991 mit polnischen Künstlern aus Oberschlesien, 1995 mit internationalen Gästen zur Erinnerung an 50 Jahre Kriegsende, 1998 mit brasilianischen Künstlern und 2002 mit Künstlern aus China. Dachauer Künstler gingen einen anderen Weg: Auf der Ebene von Freundschaften mit Künstlern etwa in Oswiecim und des Austauschs mit ihnen stellen sie sich der Konfrontation mit der Vergangenheit. Deshalb enthält die von Heiko Klohn organisierte Ausstellung zum 25-jährigen Bestehen des Künstleraustausches mit Oswiecim im Oktober kaum Werke mit zeitgeschichtlichen Sujets.
Aus gutem Grund gibt es eine Scheu, die Schoah zum literarischen Stoff zu machen, den KZ-Terror als Sujet für Film und Theater oder die bildende Kunst zu wählen. Der Zivilisationsbruch, den die Schoah darstellt, kann nicht in der Sprache naturalistischer und heroischer Darstellungsformen erzählt werden. Dennoch sind die Kunstschaffenden unausweichlich von der Schoah geprägt - doch für sie lässt sich die aus zweiter Hand erfahrene Geschichte nicht von ihrer Übermittlung lösen. Künstler wie Art Spiegelmann oder David Levinthal thematisieren die Vermittlung der Schoah - sie selbst darstellen zu wollen, wäre unangemessen und würde im Kitsch enden. Die Ausstellung von Johannes Karl, Heiko Klohn und Florian Huth in der ehemaligen Künstlerkolonie Kronberg im Februar hat vordergründig nichts mit der Geschichte zu tun: Aber der veränderte Blick auf die Landschaft als traditionelles Sujet Dachauer Malerei entspringt der Auseinandersetzung mit dem Jahrhundert der Gewalt. Aber wird auf diese Weise das konkrete Gedächtnis an die Erfahrung der Vernichtungslager, das mit dem Tod der Überlebenden zu verschwinden und musealisiert zu werden droht, aufbewahrt? Der Buchenwald-Überlebende Jorge Semprun sieht das zumindest in der fiktiven Prosa einer Soazig Aarons eingelöst.
Nicht aus der Bildhauerei oder Malerei, sondern aus dem Theater kam in Dachau denn auch ein neuer Impuls. Die Inszenierung der "Blutnacht" verzichtete auf ein vermeintlich realistisches Abbild des Grauens, bot dem Besucher auch keine Möglichkeit zur erlösenden Identifikation mit dem Leid der Häftlinge - und ging so klug mit dem Dilemma um, dass jede künstlerische Darstellung zwangsläufig eine versöhnende Wirkung hat. Das Stück der KZ-Häftlinge, eine von der SS nicht verstandene Persiflage auf Hitler, wurde nicht etwa aus dem historischen Kontext herausgerissen und einfach wiederaufgeführt. An dem Stück entlang erzählte auf der zweiten Ebene der Neuinszenierung Karen Breece die eigentliche Geschichte: Die Stadt Dachau und ihren Umgang mit der Vergangenheit. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich eine amerikanische Regisseurin, die seit Jahren in der Stadt lebt, dieses Themas annahm: Sie vereinigt die Innen- und Außenansicht Dachaus in ihrer Arbeit.
Diese Inszenierung zusammen mit Dachauer Laiendarstellern wäre vor zehn Jahren noch unmöglich gewesen - in persönlichen Statements der Laiendarsteller, die das Dachauer Verhältnis zur Geschichte ausdrückten, brach zuweilen das alte Trauma wieder auf. Die große Mimin Ursula Werner war zur Aufführung gekommen und voll des Lobs für die schauspielerische Leistung des Dachauer Ensembles. Tausende Zuschauer sahen 2012 und 2013 die "Blutnacht" - doch was bleibt von der aufklärenden Wirkung? Schauen die Besucher in ihrer Verstörung mit anderen Augen auf das Leben und die Welt? Viele Reaktionen bejahen das - doch haben Regisseurin und Ensemble auf die Rezeption danach kaum mehr Einfluss.
Auf der Bühne will Karen Breece jedoch den Impuls fortsetzen, mit einem neuen zeitgeschichtlichen Theaterprojekt: die Dachauer Prozesse. Die Aufführung ist für 2014 geplant. In Dachau trat schon Ende 1945 ein amerikanisches Militärgericht zusammen. Der Prozess über die Verbrechen im KZ Dachau wurde zum Modell für die folgenden Verfahren. Das Stück wird die Wirkung des gesamten Experiments verstärken - ob Dachau sein Trauma überwindet und Lernort wird.