Kultur in Dachau:Unheimlich verästelt

Anne Pincus und Eva Ertl entwickeln in ihrer Ausstellung "Blicklichtung" mit unterschiedlichen bildnerischen Mitteln neue, spannende Perspektiven auf ein zeitloses Thema der Kunst: die Natur

Von Gregor Schiegl, Dachau

Blicklichtung

Die Ausstellung von Anne Pincus (li.) und Eva Ertl war bereits in Cham zu sehen. Jetzt werde die Arbeiten in der KVD-Galerie gezeigt.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Er ist Kulisse für Märchen und Gruselfilme, Sehnsuchtsort und romantisches Idyll, Naturbiotop, Schauplatz erbarmungslosen Raubbaus und in Deutschland überdies ein national verschwiemelter Mythos: der Wald. "Die Definition von Wald ist notwendigerweise vage", raunt die Online-Enzyklopädie Wikipedia aus dem semantischen Unterholz. Was dem auf Eindeutigkeit angewiesenen Erklärbär ein Gräuel ist, ist für die in München arbeitenden Künstlerinnen Eva Ertl und Anne Pincus ein höchst spannendes, vielschichtiges Arbeits- und Experimentierfeld, dessen künstlerische Resultate von diesem Donnerstagabend an in der KVD-Galerie zu bestaunen sind.

"Der Wald kann vieles sein", sagt Anne Pincus: Das Unüberschaubare im nahe Liegenden, die Komplexität im Mikrokosmos, das Seltsame im Gewohnten, das Unbekannte im Bekannten, das Abstrakte im Konkreten. Wenn man die ungerahmt an der Wand hängenden mit Acrylfarbe bemalten Leinwände von ihr sieht, die den Titel "Dark Forest" tragen, sticht das wie ein Ast ins Auge. Ihr dunkler Wald sieht genauso aus wie ein deutscher Forst heute eben so aussieht, wenn man nachts mit einer Baustellenlampe hineinleuchten würde: Man steht vor einer Monokultur blassbräunlich reflektierender Fichtenstämme, die Baumkronen entziehen sich dem Blick und ebenso der Horizont jenseits des von Reisig übersäten Bodens. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, könnte man eine hinreichend abgeholzte Redensart bemühen, nur ein paar kahle Äste ragen noch in die Nacht wie dubiose dürre Tentakeln. "Die nordeuropäischen Wälder haben oft etwas Bedrohliches", sagt Anne Pincus.

Das Dickicht, die Undurchdringlichkeit, das fasziniert die in Australien geborene Künstlerin zutiefst, und natürlich ist der mit deutschen Romantik und seiner Innerlichkeit sozialisierte Betrachter geneigt, solche Szenen als Chiffren für Seelenzustände aufzufassen. Kann man machen, klar, aber genausogut kann man die Perspektive umdrehen und durch diese Arbeiten auf die globalisierte Welt blicken, in der alles hocheffizient organisiert ist, wo alles Ware ist, selbst der Wald, und der Einzelne steht verloren darin herum und fragt sich, wie er da je wieder rauskommen will.

Das heißt aber nicht, dass hier verkopfte Kunst zu sehen wäre, ganz und gar nicht. Der Titel der Ausstellung "Blicklichtung" signalisiert schon, dass der Zugang der Künstlerinnen ein ästhetischer ist, was bitte nicht mit dekorativer Oberflächlichkeit verwechselt werden darf. Eva Ertl, die ihre biografischen Wurzeln im Bayerischen Wald hat, beschäftigte sich mit den Formen und Strukturen, die sie in der Natur findet: Bäume, Wasser, Wolken und viel knorriges Wurzelwerk. Wie Anne Pincus dienen ihr Fotografien als Vorlage, doch im Gegensatz zu Pincus arbeitet sie mit einer stark reduzierten Farbigkeit; oft beschränkt sie sich in ihren großformatigen Kreide- und Kohlezeichnungen ganz auf ein kontrastreiches Schwarz-Weiß. Dessen expressive Kraft hat sie sich beim Impressionisten Georges Seurat abgeschaut, der auch ein begnadete Zeichner war.

Spannung in die Bilder bringen nicht nur Effekte wie die kunstvolle Verzerrung der Landschaft auf einer bewegten Wasseroberfläche. Eva Ertl zeichnet auf Aquarellpapier, dessen Struktur den Bildern ein ganz eigenes Gepräge gibt. Bisweilen erzeugt dies die Illusion, man stünde vor einem alten Stich - wären die Bildschnitte, die das Ausschnitthafte betonen, nicht so kühn und modern. Zwar arbeitet sich die Künstlerin mit einer akribischen Detailtreue an jeder Ranke, jedem Blatt (und auch mal einer ins Bild geschwemmten Getränkedose) ab, sie verzichtet dabei aber auf jegliche Schattierung und räumliche Tiefe. Alles ist abstrahiert auf eine plane Ebene, alles ist Struktur, nichts steht im Vordergrund, man findet nicht einmal etwas, das in den Mittelpunkt gerückt wäre und eine herausgehobene Bedeutung für sich beanspruchen könnte.

So ergänzen sich die beiden Künstlerinnen gerade durch unterschiedliche bildnerische Bearbeitung des Themas: Schwarz-Weiß und Farbigkeit, Großformat und Kleinformaten, Zeichnung und Malerei, sogar in den Materialen unterscheiden sie sich die beiden: Stoff bei Pincus, Papier bei Ertl. Sehenswert sind die Arbeiten von beiden gleichermaßen. Die Kunst lebt ebenso wie der Wald von seiner Vielfalt.

Blicklichtung. Ausstellung in der KVD-Galerie. Eröffnung am 24. Juni um 19.30 Uhr mit den Künstlerinnen Eva Ertl und Anne Pincus. Öffnungszeiten: Donnerstag bis Samstag 16 bis 19 Uhr und Sonntag 12 bis 18 Uhr. Die Ausstellung geht bis 18. Juli.

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