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Dachau:Wenn junge Straftäter Bücher lesen statt Müll aufzusammeln

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Von Daniela Gorgs, Dachau

Bücher machen klüger, ob auch besser, ist nicht einfach zu beantworten. Für Carolin Wagner steht das aber außer Frage. Ohne zu zögern antwortet sie mit einem entschiedenen Ja. "Durch Lesen können Jugendliche eigenes Fehlverhalten reflektieren und zu besseren Entscheidungen kommen." Carolin Wagner, Sozialpädagogin beim Sozialverein Brücke Dachau, betreut die sogenannte Leseweisung. Es ist ein neues Angebot in der Bestrafung krimineller Jugendlicher. Anstatt öffentliche Grünflächen sauberzuhalten oder auf dem Recycling-Hof Müll zu sortieren, müssen Jugendliche ein Buch lesen und eine Besprechung dazu schreiben.

Seit 2013 führt die Brücke Dachau neben den etablierten Sozialstunden, in denen straffällig gewordene Jugendliche gemeinnützig arbeiten, die Buchlektüre als pädagogisches Angebot auf. Für Carolin Wagner ist die Buchlektüre eine hervorragende Ergänzung zu der Vielzahl an Weisungen, die der Richter einem Jugendlichen zur Erziehungsförderung auferlegen kann. Das Gericht hat dabei eher die niedrigschwellige Kriminalität im Blick: Delikte von Ersttätern, gegen die, wenn sie der Weisung nachkommen, eine Hauptverhandlung gar nicht erst eröffnet wird.

Am Amtsgericht Dachau hat die Leseweisung einen guten Ruf, was die Geschäftsführerin der Dachauer Brücke, Ursula Walder, sehr freut. "Das Modell boomt", sagt sie. Mit 31 Leseweisungen hat die Jugendhilfe im Gericht 2013 begonnen - und die Zahl bis vergangenes Jahr nahezu verdoppelt. Die Leseecke in den Räumen der Brücke ist auf knapp 50 Jugendbücher angewachsen. Den großen Fundus sammelte Carolin Wagner über die vergangenen Jahre an. Auch wenn sie privat in einem Buchladen unterwegs ist, schlendert sie immer kurz durch die Jugendecke und hält nach weiteren Exemplaren Ausschau, liest Klappentexte und Kritiken.

In den Bücherregalen der Brücke Dachau findet sich Jugendliteratur über Gewalt, Mobbing, Sucht, Fremdenfeindlichkeit. Das zur Lektüre aufgegebene Buch muss nicht unbedingt zur vorgeworfenen Tat passen, sagt Carolin Wagner. Es muss als "Türöffner" fungieren, damit die Sozialpädagogin einen Zugang zu den jungen Menschen bekommt. Gespräche über die Straftaten erübrigten sich. "Die Jugendlichen wissen, was sie verkehrt gemacht haben. Das muss ich ihnen nicht sagen." Ziel sei, das Verhalten des jungen Delinquenten zu ändern. Und das funktioniere nur über dessen Kopf. Mit Hilfe eines Buches lasse sich die Transferleistung erreichen.

Zum Beispiel mit dem Jugendroman "Knallhart". Authentisch thematisiert der Autor Gregor Tessnow aus Sicht des 15-jährigen Michael das (Über-)Leben im Berliner Stadtbezirk Neukölln. Ohne selbst gewalttätig zu sein, wird Michael zum Opfer von Gewalt und driftet auf der Suche nach Respekt und Anerkennung ins kriminelle Milieu ab. Die Dachauer Jugendlichen lesen, wie der Protagonist von einer Misere in die nächste rutscht. Später diskutieren sie mit Carolin Wagner über die Wendepunkte in der Geschichte und überlegen, was der Protagonist hätte anders machen können. Dabei entwickeln sie Problemlösestrategien für ihr eigenes Leben. Die Bücher stoßen an, über die Tat nachzudenken und Werte zu diskutieren. Die Textarbeit bringt die jungen Straftäter dazu, ihre Emotionen zu artikulieren und über ihre Lebenslage nachzudenken.

Carolin Wagner sagt, es falle den Jugendlichen leichter, einen Protagonisten zu bewerten als ihr eigenes Verhalten. In einfühlsamen Gesprächen muss sie es dann schaffen, diesen Kreis zu schließen. Manchmal kann die Sozialpädagogin förmlich sehen, wie sich etwas im Kopf des jungen Straftäters verändert und er einen Bezug zu seinem eigenen Leben herstellt. Carolin Wagner will, dass die Jugendlichen selbst Meinungen bilden und sie auch begründen. Toll findet sie es, wenn sie positive Rückmeldung erhält. Wenn Jugendliche ihr erzählen, wie gut sie sich die Hauptfigur vorstellen konnten. Oder wie viel Spaß ihnen das Lesen bereitet hat.

Die Erfüllungsquote der Buchstrafe liegt in Dachau bei 100 Prozent. Ob es die Delinquenten daran hindert, rückfällig zu werden, hat bislang noch niemand evaluiert. Doch Wagner ist guter Hoffnung, dass ihre Jugendlichen auch nach der Weisung ab und zu mal ein Buch in die Hand nehmen, und sich damit neue Blickwinkeln eröffnen.

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Quelle:
SZ vom 17.05.2017
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