Die Brachflächen verwildern, die Gewächshäuser verfallen. Wildes Buschwerk und Unkraut sprießt dort, wo zwischen 1938 und 1945 täglich bis zu 1600 Dachauer KZ-Häftlinge in zermürbender Zwangsarbeit gelitten haben, ermordet wurden oder an Entkräftung gestorben sind. „Kräutergarten“ nannten die Nazis die Anlage, östlich der Alten Römerstraße am ehemaligen Konzentrationslager Dachau gelegen, beschönigend. Bei den Häftlingen hieß die Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung (DVA) „Plantage“, was dem mitleidlosen und menschenverachtenden Charakter des einstigen SS-Betriebs eher gerecht wurde: ein durchstrukturiertes, zunächst vor allem auf Gewinnmaximierung ausgelegtes privatwirtschaftliches Unternehmen, das ohne die Zwangsarbeit der Häftlinge so nicht realisierbar gewesen wäre.
„Mit dem Begriff der ‚Versuchsanstalt‘ für ihr Unternehmen suggerierte die SS, die DVA sei eine staatliche Institution“, schreibt Anne Sudrow, Historikerin und Holocaust-Forscherin im ersten Teil ihres mittlerweile zweibändigen Werks zur Geschichte des Dachauer Pflanzenbetriebs. 2019 war Sudrow, unter anderem Forscherin bei der Leopoldina, von der Gedenkstätte mit der Studie beauftragt worden. Zum zweiten Mal ist sie nun ins Besucherzentrum gekommen, um dort vorzutragen, was künftig die Dokumentation des Grauens im und beim KZ Dachau vervollständigen soll, wie Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann bei ihrer Einführung erklärte.
Von Anfang an, führte Sudrow aus, sei die DVA nicht zuletzt ein Lieblingsprojekt Heinrich Himmlers gewesen. Der „Reichsführer SS“ pflegte als Diplomlandwirt ein ganz besonderes Verhältnis zu jener biologisch-dynamischen Landwirtschaft, die auf den Dachauer Feldern – zur Zeit ihrer größten Ausdehnung mehr als 200 Hektar – praktiziert wurde. Nach seinem Kurzstudium der Landwirtschaft hatte Himmler in einer Kunstdüngerfirma in Schleißheim bei München gearbeitet, berichtete die Historikerin. Und diese Erfahrung habe bei ihm wohl eine Hinwendung zu einer möglichst naturnahen Anbauweise mit sich gebracht.
„Er ging davon aus, dass sich der Bodenzustand unter dem Einsatz von Kunstdünger verschlechtern würde.“ Von einer Vergewaltigung des „deutschen Bodens“ durch Kunstdünger hatte Adolf Hitler schon 1939 gegenüber dem Gartenarchitekten Alwin Seifert gesprochen, schreibt Sudrow in Band 1 der Studie „Heil Kräuter Kulturen.“ Den zweiten Band, „Saat der Gewalt“, will sie ebenfalls in Dachau vorstellen, er befasst sich mit der Geschichte des Geländes nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dass Monokulturen, wie sie im eigentlichen Verständnis der klassischen Plantage gepflegt werden, und ökologischer Anbau sich grundsätzlich widersprechen, sei eine der vielen Paradoxien, die mit dem „Kräutergarten“ in Dachau verbunden seien. Dass Zwangsarbeit, besser Sklavenarbeit, wie sie in Bayern bis zu jenen Jahren nicht vorstellbar gewesen wäre, dafür vonnöten war, ist wohl eine andere. Die Menschen starben zu Hunderten zwischen Heilpflanzenkulturen, Gewürzen, Gemüsepflanzungen und in der Schönheit von Blumenbeeten.
Ammoniak für Dünger wurde im Krieg für Sprengstoff benötigt
Profitiert haben davon viele, wie Sudrow dokumentiert hat: Die DVA lieferte an Betriebskantinen, getrocknete Kräuter gingen an Bauern, die gesamte Bevölkerung konnte kaufen, was dort hergestellt wurde. Per Versand, aber auch in einem Laden am Rande des Geländes. Die Kräuter wurden in einer Münchner Sauerkrautkonservenfabrik getrocknet, hin- und zurückgebracht mit Lkw, bis die Trocknungsanlage auf dem Gelände funktionierte. Kontakte zur Bevölkerung gab es also immer wieder – manche wurden wohl auch genutzt, um Dinge ins KZ hinein oder herauszuschmuggeln.

Nationalsozialismus:"Jeder Quadratmeter wurde mit dem Leben eines Häftlings bezahlt"
Die renommierte Wissenschaftlerin Anne Sudrow liefert in ihrer Studie zum "Kräutergarten" neue Erkenntnisse zu den Strukturen der mörderischen Plantage.
Gewürze, Gemüse, Blumen und Heilpflanzenkulturen aus homöopathisch-ökologischem Anbau besonders für Ärzte standen am Anfang der Forschungs- und Anbauunternehmungen in Dachau. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde für die DVA dann zu einem Wendepunkt „im Hinblick auf die Beschäftigung der SS-Führung mit der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise“, schreibt Sudrow. Die Siedlungspolitik in den neu eroberten und neu zu erobernden Gebieten in den „neuen Reichsgauen“, die von Hitler sogenannte „ethnische Flurbereinigung“, machte es notwendig, dort die Ernährung der deutschen Siedler auf neue Füße zu stellen. Es ging darum, ohne Dünger zu wirtschaften – unter anderem, um Kunstdünger in der Landwirtschaft zu vermeiden.
Dafür sei, erklärte Sudrow, Ammoniak notwendig gewesen. Den aber habe man zu Kriegszeiten auch für Sprengstoff und andere Rüstungsgüter gebraucht. Heinrich Himmler schaffte der DVA im Januar 1940 an, „schnellstmöglich in den besetzten Gebieten einen großen Vieh- und Pflanzenbestand aufzubauen“, jährlich 10 000 Siedler sollten dort nach einem schnellen Ende des Kriegs Fuß fassen. Dass in Himmlers Weltbild überdies Kunstdünger eine Ausgeburt des jüdisch-bolschewistischen Kapitalismus war, habe sicher das Seine dazu beigetragen, dass er dem biologisch-dynamischen Wirtschaften seine Gunst schenkte, so Sudrow.
Der „lebensgesetzliche Landbau“ basierte auf der Lehre Rudolf Steiners
Schließlich schien der „lebensgesetzliche Landbau“ – der Begriff ökologisch sei wohl damals nicht verwendet worden – basierend auf der Lehre Rudolf Steiners für das autarke Wirtschaften der Bauern wie geschaffen. 1940/41 hätten SS-Leute an der Jahresversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft teilgenommen, erklärte Sudrow. Der Anthroposoph Fanz Lippert, zuvor beim Naturkosmetik- und Arzneimittelhersteller Weleda als Obergärtner beschäftigt, übernahm die Leitung der DVA in Dachau. Dass Kontakte zur Firma Weleda auch während des Kriegs und sogar danach weiterbestanden, legt Sudrow ebenfalls in ihrer Studie dar.

So wurden vom KZ-Arzt Sigmund Rascher in Dachau an die 300 Unterkühlungsversuche an Menschen vorgenommen, bei denen die Opfer sich in ein Becken setzen mussten, das mit Wasser und Eisblöcken gefüllt war. Am 28. Januar lieferte das Forschungslabor der Weleda AG in Stuttgart 20 Kilogramm einer „Frostcreme“, hergestellt wohl auf Basis einer von Rascher initiierten Vaseline-Lieferung an die Weleda-Fabrik in Schwäbisch-Gmünd. Nachträglich habe Rascher um eine Vernichtung der Korrespondenz ersucht, berichtete Sudrow.
Im Zuge ihrer Pflanzenversuche richtete die SS Außenstellen der DVA ein, wo Pflanzen unter anderen Bedingungen gezogen und kultiviert werden konnten. Unter anderem entstand für den Paprikaanbau in Heppenheim an der Bergstraße die Außenstelle Heidelberg, hinzu kamen auch das KZ-Außenlager Hausham/Vordereckart, das frühere Rohrauerhaus der Naturfreunde Südbayern, oder das KZ-Außenlager Erlhofplatte mit zugehörigem „Alpengarten“. In Heppenheim züchtete man Paprika als wichtigste Komponente zur Herstellung des Ersatzpfeffers Prittlbacher Gewürz. Auch ging es darum, nicht von Pfefferlieferungen aus anderen Ländern abhängig zu sein.

Ein Häftlingsarbeitskommando schuftete auch im Alpengarten, wo DVA-Obergärtner Lippert gern mit seiner Familie Urlaub machte. Dorthin zog er sich auch zurück, um in Ruhe das Kriegsende abzuwarten.
In der Plantage starben bis 1945 mehr als 800 Häftlinge, während sie Kartoffeln ernten mussten. Alle Arbeiten mussten von Hand erledigt werden. Ein schwerer, vierrädriger Karren wurde für Transporte eingesetzt, sie mussten ihn selber ziehen. „Mit gebeugtem Rücken schleppten die Häftlinge im Sommer in Hitze und Staub und im Winter in Regen, Kälte, Schnee und Morast wie Zugtiere die Wagen“, schreibt Sudrow, „oft im Laufschritt, angetrieben von einem Kapo mit der Peitsche“. In ihrer Verzweiflung liefen sie manchmal auch absichtlich hinter die Postenkette und wurden erschossen.
Der Kräutergarten soll Teil der Gedenkstätte werden, seit 2008 ist davon die Rede. 2022 hatte es nach einer Einigung zwischen der Stadt und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten ausgesehen. Letztere wollte das 8000 Quadratmeter große Gelände für einen symbolischen Kaufpreis erwerben. Doch es geht nicht recht voran, es hakte zuletzt an finanziellen und bürokratischen Details.

