Der Vorsatz, nicht zu klatschen, hält nicht einmal bis zum ersten Lied. Dabei hatte Pfarrer Björn Mensing die Menschen in der bis auf den letzten Platz gefüllten Dachauer Friedenskirche gerade noch darum gebeten, sich den Applaus für das Ende aufzusparen. Doch die deutsch-karibischen Musiker Wally und Ami Warning, ein Duo aus Vater und Tochter, haben noch nicht einmal die provisorische Bühne vor dem Altar betreten, da schlagen im runden Kirchenschiff schon die Hände zusammen. Und als sie mit Gitarre, Percussion und souligen Stimmen ihr erstes Stück „Fairytales“ anstimmen, wippt das ganze Publikum mit den Füßen.
Anlässlich der Internationalen Wochen gegen Rassismus, die heuer bis 30. März stattfinden, hatten der Dachauer Gedenkstättenpfarrer Mensing, dessen Tochter Anika sowie bekannte afrodeutsche Musikerinnen und Musiker am Sonntag zu einer Konzertandacht nach Dachau eingeladen. Das Motto: „Oh, Freedom! – The World Needs Love“. Mit Musik, Gedenkreden und persönlichen Erzählungen soll dabei an die Diskriminierung und Verfolgung schwarzer Menschen während des Nationalsozialismus erinnert, aber auch die Vielfalt und Lebendigkeit der modernen afrodeutschen Kultur gefeiert werden. Die Spendeneinnahmen kommen der Münchner Initiative „MAAT Medienkollektiv und Archiv Afrodiaspora“ sowie dem schwarzen Frauenkreis „Sisterhood Munich“ zugute.




„Es gibt mehrere Bezüge zu diesem Thema und Dachau“, sagt Mensing. So wurde etwa nur vier Kilometer von dort, wo heute die Friedenskirche steht, von 1933 an das Konzentrationslager Dachau errichtet, in das insbesondere politische Gegner, später aber auch rassistisch Verfolgte verschleppt wurden. „Über 2000 People of Color wurden wohl in der Zeit des Nationalsozialismus in unterschiedlichen Konzentrationslagern ermordet“, sagt Mensing. Eine genaue Opferzahl aus dem Konzentrationslager Dachau ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass drei Häftlinge Nachkommen aus Beziehungen zwischen Kolonialsoldaten und deutschen Frauen waren – sie wurden seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg als sogenannte „Rheinlandbastarde“ diffamiert. 1937 wurden durch eine von Hitler befohlene Geheimaktion zudem zwischen 400 und 600 afrodeutschen Menschen, darunter auch Mädchen, zwangssterilisiert.
Einer von ihnen war Heinz Kerz, für den Anika Mensing während der Andacht eine Kerze anzündet. Ein Beamer projiziert das Bild eines jungen Mannes in Badehose an die Wand, er steht am Beckenrand in einem Freibad, umringt von, wie es scheint, weißen Freunden. Kerz, der 1920 im Rheinland als Sohn einer Deutschen und eines Soldaten aus einer französischen Kolonie in Afrika zur Welt kam, sei ein erfolgreicher Fußballer und Schwimmer gewesen, erzählt Anika Mensing. Von 1933 an war er jedoch den Diskriminierungen der Nationalsozialisten ausgesetzt, wurde aus seiner Fußballmannschaft ausgeschlossen, durfte nicht mehr bei Schwimmwettkämpfen antreten und keine Berufsausbildung machen.



Im Mai 1943 deportierten die Nationalsozialisten Kerz ins KZ Dachau. Vom sogenannten Todesmarsch, bei dem er kurz vor der Befreiung durch die Alliierten zu Fuß nach Bad Tölz getrieben wurde, trug er bleibende körperliche Schäden davon. Nach dem Krieg kehrte Kerz in seinen Geburtsort Nieder-Olm zurück. Als Bademeister brachte er dort zahlreichen Kindern das Schwimmen bei; er engagierte sich bei seinem alten Fußballklub sowie als Gemeinderat für die lokale SPD. 1980 starb Heinz Kerz an den Folgen der Haft. Bis heute ist in Nieder-Olm eine Sporthalle nach ihm benannt.
Der Großteil der in Dachau inhaftierten schwarzen Menschen gehörte dagegen der französischen und auch belgischen Résistance an. Pfarrer Björn Mensing erzählt etwa von Jean „Johnny“ Vosté. Geboren wurde Vosté 1924 in damals Belgisch-Kongo, heute die Demokratische Republik Kongo. Sein Vater brachte ihn als Kind nach Belgien und gab ihn in die Obhut eines Waisenhauses, um ihn dort „europäisch-weiß“ erziehen zu lassen. 1941 – im Alter von 17 Jahren – trat Vosté der belgischen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung bei. Er wurde jedoch verraten und 1942 verhaftet, und schließlich im Juli 1944 in das Konzentrationslager Dachau verschleppt, wo er zur Arbeit im Warenlager gezwungen wurde. Die Stelle verschaffte ihm Zugang zu vitaminreichen Nahrungsmitteln, die er heimlich an Mithäftlinge verteilte. Über den weiteren Lebensweg von Jean Vosté nach seiner Befreiung im April 1945 ist wenig bekannt – er kehrte wohl nach Belgien zurück, wo er bis zu seinem Tod 1993 lebte.
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„Ihre Geschichten verbinden uns, deswegen müssen wir an sie erinnern. Erinnerungskultur ist wichtig“, sagt die Münchner Sängerin und Rapperin Kokonelle. Wie Jean Vosté wurde auch sie im Kongo geboren, als Achtjährige kam sie nach Deutschland. Ihre Songs, in denen sie aus ihrer Perspektive als schwarze Frau über Ermächtigung und Selbstbestimmung erzählt, vereinen Hip-Hop, RnB, Afro-Pop und Soul; in der Dachauer Friedenskirche singt Kokonelle an diesem Sonntag solo a cappella. „Sich verbunden zu fühlen, ist wichtig – vor allem in Zeiten, in denen Spaltung einfacher erscheint, als aufeinander zuzugehen und zuzuhören“, so Kokonelle, die sich zudem als Aktivistin gegen anti-schwarzen Rassismus und für kulturelle Diversität engagiert. Die Vergangenheit sei nicht mehr zu ändern, doch ließen sich aus dort erfahrenem Leid neue Lehren ziehen. „In Schmerz liegt sehr viel Kraft: Kraft zu Veränderung, Kraft zum Handeln; Kraft, um noch näher zusammen zu kommen. Und nichts und niemand sollte uns das Miteinander rauben.“
Wie es sich als schwarzer Mensch heute in Deutschland lebt, davon berichtet Simon Sugaray Son. Der Gospelsänger wurde 1948 in Franken geboren; heute er engagiert sich beim Runden Tisch gegen Rassismus in Dachau. Als Afrodeutscher habe er in seinem Leben die „verschiedensten Facetten des Rassismus“, aber auch Unterstützung und Zivilcourage erlebt, wie er erzählt. „Ich wurde nie körperlich attackiert, aber man hat versteckten Rassismus gespürt. Als Kind war ich von vielen Dingen ausgeschlossen.“
Der Dachauer Gospelsänger Simon Sugaray Son berichtet von Rassismus im Alltag
Mit ruhiger Stimme berichtet Simon Sugaray Son von verbalen Angriffen etwa in der U-Bahn, wo er des Öfteren gefragt worden sei, was er „denn hier verloren“ habe. Von einer leiblichen Tante, die ihn irgendwann nicht mehr zu Besuch haben wollte: Die Leute im Umfeld hätten ja meinen können, er sei ihr schwarzer Freund. Und als er als junger Mann mal mit seinem Hund Elwood auf dem Münchner Marienplatz unterwegs gewesen sei, habe ihn eine ältere Dame auf das Tier angesprochen und gefragt: „Aber Sie essen den Hund nicht?“
Er könne damit „mittlerweile wunderbar“ umgehen, sagt der Musiker, bevor er mit dem Gospelsong „Oh, Freedom“ ein afroamerikanisches Spiritual aus der Zeit um den amerikanischen Sezessionskrieg anstimmt. Das Lied wird heute insbesondere mit der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung in den USA assoziiert. „Ich bin jetzt jemand, der glücklich ist, dass er in so einer tollen Gesellschaft in Deutschland und Europa aufwachsen darf, wo viele Menschen diesen Rassismus nicht gutheißen, die ihn verabscheuen“, sagt Simon Sugaray Son. Sein zweiter Musikbeitrag ist der afroamerikanische Protestsong „We Shall Overcome“. Dazu nehmen sich die Anwesenden in der Friedenskirche bei den Händen, bilden eine Menschenkette. Einige singen mit.
Am Ende wird auf den Stufen zum Altar getanzt
In Dachau gebe es zum Thema Rassismus noch einigen Korrekturbedarf, sagt Pfarrer Björn Mensing. Zum Beispiel ist bis heute eine Straße in der Stadt nach dem Bildhauer Walter von Ruckteschell benannt; Mensing bezeichnet ihn als „einen der übelsten deutschen Kolonialrassisten“. Der Künstler lebte in den 1920er-Jahren in Dachau. Er war als NSDAP-Mitglied eng mit dem Naziregime verbandelt und glorifizierte in seinen Werken sowie als NS-Propagandist die deutsche Kolonialmacht. Die Stadt Dachau kennzeichnet den „Von-Ruckteschell-Weg“ auf ihrer Webseite mittlerweile als „problembehafteten Straßennamen“ und erklärt, es werde derzeit eine „ergänzende Tafel mit Erläuterungen zur namensgebenden Person“ erarbeitet.
Statt im Schatten der NS-Zeit endet die Andacht am Sonntag jedoch als ein Fest der Diversität – unter anderem mit dem Chor Feo Antso der Madagassischen Christlichen Gemeinschaft München. Einmal im Monat treffen sich deren Mitglieder in der Friedenskirche oder in der Mariä-Himmelfahrt-Kirche in Dachau zum Gottesdienst in madagassischer Sprache. Und als zum Schluss endlich richtig geklatscht werden darf und Wally und Ami Warning für eine Zugabe noch einmal zu den Instrumenten greifen, tanzen schließlich alle Beteiligten und einige im Publikum gemeinsam auf den Stufen zum Altar.
Die KZ-Gedenkstätte Dachau beteiligt sich in diesem Jahr mit drei Veranstaltungen an den Internationalen Wochen gegen Rassismus: Am Samstag, 22. März, mit einem Themenrundgang zu den sozialrassistisch verfolgten Häftlingen im KZ Dachau, am Mittwoch, 26. März, mit einem Online-Vortrag zur „KZ-Gedenkstätte im Fokus der Rechten“ und am Freitag, 28. März, mit einem Rundgang samt Workshop zum Thema „Ausgrenzung und Diskriminierung nach 1945“. Weitere Infos auf der Homepage der KZ-Gedenkstätte Dachau.