Die Sonne versinkt schon langsam hinter den Betonwänden der Versöhnungskirche, als die Besucher am Donnerstagabend auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau eintreffen, paarweise und in kleinen Gruppen. Im warmen Licht herrscht freudige Erwartung, für viele ist das Programm des Abends, "Lieder von Verfolgten", das erste echte Konzert seit Monaten. Auch der Veranstaltungsort erlebt eine Premiere, denn die Veranstaltung findet draußen auf den Stufen vor dem Eingang der Kirche statt. Im Stile eines Amphitheaters bilden die Treppen eine Tribüne für die Zuschauer, für den entsprechenden Abstand ist natürlich gesorgt.
Rasch verstummen die Stimmen, als sich die beiden Künstler Tassilo Rinecker und Jonas Höltig auf der Bühne vor ihren Instrumenten einfinden. Zwischen Sonne und Schatten wird durch das Programm des Abends wieder bewusst, welche Geschichte, welcher Schmerz, aber auch welcher Überlebenswille der Häftlinge mit diesem Ort verbunden ist. Mit den Liedern und ihren emotionsgeladenen Geschichten wollen die Künstler - zwei ehemalige Politikstudenten, die sich an der Uni kennengelernt haben - an die Menschen verfolgter Gruppen im Nationalsozialismus erinnern, an Juden, Sinti und Roma oder Zeugen Jehovas. Es soll eine Würdigung sein. Die Grundpfeiler ihres Programms bilden deshalb "Musik, Erzählen, Erinnern". Auch für die beiden Künstler ist es ein besonderer Abend. Zum ersten Mal spielen sie ihr Programm in einem ehemaligen Konzentrationslager. "An einem Ort der Geschichte zu sein, das macht etwas mit einem selbst", erzählt Tassilo Rinecker zu Beginn, "wir fühlen uns sehr geehrt, heute hier zu sein".
Die Ambivalenz der Motive Musik und Verfolgung ist den beiden Künstlern sehr wohl bewusst, gleichzeitig bildet sie den Grundpfeiler des gesamten Abends. "Wir haben uns zu Beginn gefragt, welche Macht Musik in einer Zeit der Verfolgung hat", erzählt Jonas Höltig. "Die Musik kann für Verfolgte vieles sein: motivierend, ein Katalysator für Schmerz, Trauer und Angst, identitätsstiftend oder auch nur eine kleine verbliebene Freude in der Gemeinschaft". Und ja, "manchmal ist Musik aber auch sehr unpassend". Höltig erinnert daran, dass Musik in den Internierungslagern häufig benutzt wurde, um Disziplin bei der Arbeit oder dem Marschieren durchzusetzen und dies dadurch oft eine weitere Demütigung für die Insassen bedeutete.
Diese Vielschichtigkeit der Musik spiegelt sich auch in der Musikauswahl des Abends. So zeigen viele Lieder das Leid des Alltags in der Gefangenschaft auf, allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln und emotionalen Zuständen. Dieser Wechsel spiegelt sich in den Gesichtern des Publikums wider, das sich durch die Melodien und Texte mal in bittertiefe Verzweiflung, mal in Heiterkeit oder Wagemut versetzt sieht. So erfüllt heiteres Lachen die Ränge, als das humoristische Klagelied eines Gefangenen "Naja" von Karl Schnog und Bruno Apitz aus dem Jahr 1943/1944 vorgetragen wird. Es zeigt den Versuch der Menschen, sich einen gewissen Humor zu erhalten, selbst wenn die Zeit noch so düster und verloren scheint.
Anders das Herzstück des Abends: das berühmte "Dachaulied". Der Text wurde 1938 im Konzentrationslager Dachau mit einem klaren Widerstandsgedanken von Jura Soyfer verfasst und mit Musik durch Herbert Zipper unterlegt. Beide Häftlinge empfanden den KZ-Torspruch "Arbeit macht frei" als blanken Hohn angesichts der nie endenden Zwangsarbeit und integrierten ihn deshalb in den Refrain ihres Widerstandliedes, das ihnen und ihren Mitgefangenen Mut machen sollte.
Das Tor mit der zynischen Aufschrift haben auch die beiden jungen Künstler an diesem Abend erstmals durchschritten. "Ich habe mich unglaublich privilegiert gefühlt, als wir heute durch das Tor gelaufen sind", sagt Tassilo Rinecker, "weil wir es als freie Menschen tun und uns erinnern können". Das Erinnern steht im Zentrum dieses bewegenden Abends: Erinnern an die Verfolgten und ihre Geschichten. Die Musik soll dabei helfen - "ohne zu romantisieren", wie Jonas Höltig betont. Denn so wichtig den Gefangenen die Lieder waren, um den Schikanen und Demütigungen im Lager standzuhalten: "Musik hat nicht eine Person vor dem Tod retten können", gibt Jonas Höltig zu bedenken.