Gedenken an Holocaust-Überlebende:„Musik war unsere Nahrung, sie nahm uns die Angst“

Lesezeit: 3 Min.

Das übergroße Porträtfoto der Pianistin und Holocaust-Überlebenden Alice Herz-Sommer beherrscht am Sonntagnachmittag den Evangelischen Gemeindesaal in Altomünster. (Foto: Ludwiga von Korff)

Mit seinem Lese- und Musikprogramm „Zwischen Schwarz und Weiß“ erinnert Markus Kreul an die Pianistin und Holocaust-Überlebende Alice Herz-Sommer. Es ist ein Konzert, das berührt, bewegt und begeistert.

Von Dorothea Friedrich, Altomünster

Wache Augen, eine Hand am Ohr, so als wolle sie sich keinen Ton entgehen lassen und ein fast entrücktes Lächeln: Das übergroße Porträtfoto der Pianistin und Holocaust-Überlebenden Alice Herz-Sommer beherrscht am Sonntagnachmittag den Evangelischen Gemeindesaal in Altomünster – und zieht alle Blicke magisch an.

Das Leben dieser mutigen Frau habe ihn fasziniert, seit er ihre Autobiografie mit dem aussagekräftigen Titel „Ein Garten Eden inmitten der Hölle“ gelesen habe, sagt Pianist Markus Kreul. Mit seinem Lese- und Musikprogramm „Zwischen Schwarz und Weiß“ wolle er an Alice Herz-Sommer erinnern und zugleich ein „Konzert für Frieden, Freiheit und Toleranz“ spielen. Dafür hat er Stücke von Frédéric Chopin, Wolfgang Amadeus Mozart, Robert Schumann, Franz Liszt, Egidio Umari sowie das „Dachau-Lied“ von Herbert Zipper und Sphärenklänge von Hans Otte ausgewählt.

Mit zwei Mazurkas von Chopin schlägt Kreul eine breite Brücke zu Alice Herz-Sommers Leben. Dessen Etüden sind für die 1903 in Prag geborene Herz-Sommer immer wieder so etwas wie Lebensretter in einer dem Untergang geweihten Welt. Wenn sie Klavier spiele, werde die Musik „ein Stück von meinem Körper, meiner Seele“, schreibt sie in ihren Erinnerungen.

Alice Herz-Sommer übt und übt und übt

Herz-Sommer wächst in einem großbürgerlichen, liberalen Haus auf, wird schon in jungen Jahren als Pianistin bekannt – und heiratet 1931 den Geiger Leopold Sommer. 1937, da wird Sohn Stephan geboren, drohen schon die braunen Schatten. Mit der Besetzung Prags durch die Nazis änderte sich ihr Leben radikal. Sie schreibt, wie sie entsetzt am Schwimmbad das Schild „Für Juden verboten“ entdeckte, wie ihr Mann seine Arbeit verlor, wie sie – trotz Verbots – das Leben ihrer Familie mit „üben, konzertieren, unterrichten“ finanzierte.

Als ihre Mutter 1942 im Alter von 72 Jahren nach Theresienstadt deportiert wird, bricht die mittlerweile 39-jährige Herz-Sommer endgültig zusammen, fällt in tiefe Depression und findet einen Rettungsanker: „Übe die 24 Etüden. Das wird dich retten.“ Sie übt und übt und übt, bis sie, ihr Mann und ihr Sohn 1943 von den erbarmungslosen Erfüllungsgehilfen des Nazi-Regimes nach Theresienstadt verschleppt werden.

Schönste Klänge hier, Zwangsarbeit und Folter dort

Dort haben diese ein perfides System der Täuschung aufgebaut: In dem von ihnen als „jüdische Mustersiedlung“ apostrophierten Todeslager gibt es auch „offizielle“ Kulturveranstaltungen, bei denen Herz-Sommer immer wieder auftritt. Herz-Sommer hat immer noch die vergebliche Hoffnung: „Wenn man in Theresienstadt Konzerte veranstaltet, kann es nicht so schlimm sein.“ Es war schlimmer.

Man kann sich das kaum vorstellen: hier schönste Klänge, dort Zwangsarbeit, Hunger, Folter, Tod. 1944 wird ihr Mann ins KZ Auschwitz verlegt. Beim Abschied ermahnt er seine Frau: „So lange du freiwillig entscheiden kannst, darfst du niemals auf die Verlockungen der SS eingehen.“ Leopold Sommer muss eine grauenhafte Reise durchleiden: Vom KZ Auschwitz ins KZ Buchenwald, von dort ins KZ Flossenbürg und schließlich ins KZ Dachau. Dort stirbt er kurz vor der Befreiung durch amerikanische Truppen 1945 an Flecktyphus. Alice Herz-Sommer und ihr Sohn überleben in Theresienstadt. Sie spielt – Noten gab es nicht – auch Chopins Etüden und – das ist die grausamste Vorstellung – „die Begleitmusik zu den Transporten in die Gaskammern“.

Immer wieder schaut man sich das Gesicht auf dem übergroßen Foto an, fragt sich, wie das alles auszuhalten war. Markus Kreul gibt am Klavier eine Antwort: Musik hat eine meditative Kraft, macht beim Dachau-Lied den Stolz, den Trotz, die Widerstandskraft der Häftlinge spürbar, führt mit Hans Ottes „Buch der Klänge“ in faszinierende, unentdeckte Welten und zugleich ins eigene Ich. Musik stärkt die Selbstbestimmtheit – beim Hören und beim Spielen. Oder wie Alice Herz-Sommer sagte: „Musik war unsere Nahrung, sie nahm uns die Angst.“

Für die Pianistin Herz-Sommer ging das Leben nach der Befreiung mit neuen, mehr als unguten Erfahrungen weiter: In ihrer Heimatstadt Prag tobte (immer noch oder schon wieder) der Antisemitismus. Sie emigrierte nach Israel, zog in 1980er-Jahren nach London, wo ihr Sohn lebte. Und starb 2014. Da war Herz-Sommer 110 Jahre alt und hatte lebenslang ihren Garten Eden gehegt und gepflegt: die Musik.

Und das Publikum im Altomünsterer Sonntagskonzert? War berührt, bewegt, begeistert und durfte sich nach einer im wahrsten Sinne guten Stunde voller inspirierender Töne und nachdenklich stimmender Worte in eine Welt ohne Hass, Ausgrenzung und Krieg versetzen – wenigstens für eine ruhe- und kraftspendende Weile.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Nationalsozialismus
:Pragmatiker des Bösen

SS-Mann Emil Vogt stand an der Spitze des sogenannten „Kräutergartens“ in Dachau, einer Plantage nahe dem Konzentrationslager. Unter seiner Verantwortung mussten Häftlinge schuften bis zum Umfallen. Über einen Reuelosen.

SZ PlusVon Laura Geigenberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: