An diesem Wahlabend fällt man sich nicht in die Arme, man gibt sich nicht mal die Hand. Und das, obwohl dieser Wahlabend doch so sehr an das Jahr 2014 erinnert und damit an den Überraschungssieg von Florian Hartmann. Ob man schon feiern dürfe? Das fragen die Versammelten von SPD, Grünen und Bündnis den amtierenden Oberbürgermeister immer wieder. Das erste Mal um kurz nach 18 Uhr, als Wahllokale bayernweit geschlossen sind und das erste Ergebnis auf dem Bildschirm erscheint: 77 Prozent für Hartmann, dahinter Peter Strauch (CSU) mit rund zwölf Prozent, ÜB-Hoffnungsträger Gampenrieder bei rund drei Prozent. Die Balken werden sich noch verändern im Laufe der nächsten Stunden, doch eines bleibt: Der rote ragt weit über die anderen hinweg.
Hartmann tigert trotzdem auf und ab, den Blick immer fest auf das Handy gerichtet, denn der Beamer in der Schranne versagt in regelmäßigen Abständen. Um ihn herum scherzt man, die Wahl sei ja schon entschieden, man lässt sich zu den ersten Schulterklopfern hinreißen. Doch Hartmann tigert weiter, will die Ergebnisse der Briefwahl abwarten. Erst als rund zwei Drittel der Stimmen ausgezählt sind und er eine Portion Nudeln vertilgt hat, erlaubt er sich das erste richtige Lächeln des Abends. "Wir haben nun mal gute Arbeit geleistet die letzten Jahre", sagt er, wirkt zufrieden.
Hartmanns Gegenkandidat sagt: "Das kann ja nicht sein"
Als um 18.18 Uhr das erste Ergebnis der OB-Wahl über die Leinwand im Landratsamt flimmert, sagt Markus Erhorn: "Das kann ja nicht sein." Der OB-Kandidat der Freien Wähler Dachau sitzt am Tisch und ist ziemlich überrascht, dass Hartmann so gut abschneidet. Ihm gegenüber hockt Peter Strauch, OB-Kandidat der CSU. Er ist sichtlich schockiert. Je höher der rote Balken an diesem Abend steigt, desto mehr sinkt Strauch in sich zusammen. Erhorn will ihn aufmuntern, ruft ihm noch zu: "Die Briefwahl gewinnen wir." Doch Strauch kann da schon nicht mehr lachen. Er schaut ständig auf sein Smartphone. Um 18.25 Uhr hat er genug gesehen. Er steht auf. Und geht ins CSU-Bürgerbüro. Er braucht jetzt die Rückendeckung seiner Parteifreunde.

Dort ist die Stimmung allerdings nicht besser. Auch hier ist Strauch auf seinem Stuhl versunken, schüttelt den Kopf. Im Hintergrund laufen die Nachrichten, es geht um das Coronavirus, gerade nennt der Sprecher die neuen Zahlen der Infizierten in Bayern. Als klar wird, dass der rote Balken Hartmanns nicht weiter sinken wird, da wird Strauch kurz nach draußen an die frische Luft treten und auch die Pandemie mitverantwortlich machen für dieses Ergebnis in der Stadt Dachau. "Wir haben einen guten Wahlkampf gemacht", sagt er überzeugt. Mit dem linken Fuß schlägt er dabei regelmäßig gegen die Stufen, enttäuscht sieht er aus - enttäuscht und trotzig. "Aber der Amtsinhaberbonus und die aktuelle Krisensituation waren gegen uns", begründet er sein schlechtes Ergebnis. Welchen Einfluss das alles genau auf die Wahl gehabt habe, das könne man natürlich so nicht sagen. "Aber es verändert nun mal die Sichtweise der Bürger", so Strauch.
Kommunalwahl in Dachau:Höhenflug und Bauchlandung
Mit diesem sensationell hohen Ergebnis, fast einer Verdreifachung des Ergebnisses von 2014, aber hat die Allianz und ihr gemeinsamer SPD-Spitzenkandidat Florian Hartmann selbst nicht gerechnet.
Es ist kurz nach 13 Uhr, als Luis H. das Ludwig-Thoma-Haus verlässt. Der Himmel über Dachau ist wolkenlos. Der 23-jährige Dachauer hat soeben seine Stimmen im Wahllokal abgegeben und ist entspannt. Er hat keine Angst, sich beim Wählen mit dem Coronavirus infiziert zu haben. "Da drin ist ja alles leer", sagt er und deutet auf den Eingang zum Thoma-Haus. Außerdem sei es sauber und es gebe ausreichend Desinfektionsmittel. Gleichwohl finde er es schon "zwiespältig", dass die Politik einerseits verlange, man solle soziale Kontakte meiden und andererseits aber die Wahlen voll durchgezogen würden. Gewählt hat er übrigens Peter Strauch, den CSU-Oberbürgermeisterkandidaten. Das entsprechende Kreuzchen hat er mit seinem eigenen Stift gesetzt.

Viele Wähler vertrauen auf die Aussagen von Politikern wie Landrat Stefan Löwl (CSU). Dieser ist am Sonntag gleich in drei verschiedenen Wahllokalen gewesen, wohl auch um zu zeigen, dass die Durchführung der Wahl "vollkommen unproblematisch" sei, wie er sagt. Tatsächlich allerdings steigt auch im Landkreis die Zahl der Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Und in der Stadt Dachau hat die Krise auch am Wahltag Spuren hinterlassen: An die 50 Wahlhelfer sind der Stadt Dachau kurzfristig abgesprungen. Darunter seien Leute, "die Angst haben sich anzustecken", sagt Hauptamtsleiter Josef Hermann am Nachmittag. Die Abwicklung der Wahl und die Auszählung der Stimmen sei in Dachau aber gesichert. Die Ausfälle in den Wahllokalen versuche man über den Bestand auszugleichen. Insgesamt sind laut Wahlorganisatorin Beate Boll nun etwa 460 Wahlhelfer in Dachau im Einsatz. Wie Boll berichtet, hätten sich auch vereinzelt Wähler kurzfristig entschieden, per Brief abzustimmen und sich die entsprechenden Wahlunterlagen bei der Stadt besorgt. Die Stadt hat insgesamt 12 000 Briefwahlunterlagen ausgegeben. In Dachau gibt es 36 000 Wahlberechtigte.
"Nicht nur Houston, auch wir haben ein Problem"
Am Abend stockt dann nicht die Auszählung, vielmehr gibt es eine Störung bei der Übermittlung der Ergebnisse aus den Gemeinden an das Landratsamt. Es ist kurz vor 20 Uhr, als Pressesprecher Wolfgang Reichelt im Saal des Landratsamtes meldet: "Nicht nur Houston, auch wir haben ein Problem." Laut Reichelt ist ein zentrales Rechenzentrum zusammengebrochen, weshalb die Ergebnisse nicht übertragen werden können. Die Techniker seien dran, sagt Reichelt, der ständig versucht, die Ergebnisse zu aktualisieren. Doch mehrmals bricht die Online-Seite zusammen. Löwl liegt zu diesem Zeitpunkt bei rund 55 Prozent, dennoch ist er angespannt. Immer wieder blickt er auf sein Handy, dann wieder auf die Leinwand. Seine Frau hockt direkt hinter ihm und redet ihm gut zu. Auch die anderen Landratskandidaten verfolgen mit Spannung die Auszählung. Es ist still im Sitzungssaal. Dann muss Löwl laut niesen und löst damit Gelächter aus. Einer fragt: "Corona?" Löwl lacht und erwidert: "Will jemand?" -Es wird noch eine zähe Angelegenheit an diesem Abend. Den Kandidaten und ihrer Entourage bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Eine Frau fängt sogar an zu häkeln.
Zu Beginn geht Löwl wild im Raum umher, von einer Person zur nächsten. Doch als die Ergebnisse anfangen einzutrudeln, wird seine Körpersprache ruhiger, er setzt sich, die Anspannung scheint förmlich aus seinem Körper zu entweichen. Niemand gibt sich die Hand. Löwl versucht es erst mit einem lässigen Fuß-zu-Fuß-Gruß, doch spätestens als seine Frau den Raum betritt, spielt das soziale Distanzieren keine Rolle mehr. Er umarmt sie kräftig und sagt: "Mit dir mach' ich schon soziale Kontakte"

Mit den ersten für ihn guten Ergebnissen, wirkt Löwl entspannter, geht auf Menschen zu, er gratuliert Helmut Zech zu seiner Wiederwahl als Bürgermeister in Pfaffenhofen. Später kann auch Löwl feiern. Er hat die Stichwahl abgewendet.
Es ist kurz vor acht, die Frage geht erneut an Hartmann. Der hat gerade ein Fernsehinterview gegeben, kurz darauf wird zuerst Strauch vorbeikommen zum Gratulieren, später Peter Gampenrieder seinem Kontrahenten den Ellbogen schütteln. An die vierzig Leute haben sich mittlerweile in der Schranne versammelt, stoßen miteinander an, während die bayerische Regierung schon vor Stunden beschlossen hatte, ab Montag nicht nur Schulen zu schließen, sondern auch weitere Teile des öffentlichen Lebens einzuschränken. Sämtliche soziale Kontakte zu reduzieren, das hatte Bundeskanzlerin Merkel bereits vor ein paar Tagen gefordert, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Ob er denn Bedenken gehabt habe, dass die Wahl trotz dieser Umstände durchgeführt werde? Da formt Hartmann seine Hände tatsächlich zur berühmten Merkel-Raute, spricht mit ähnlich ruhiger Stimme. Die Ansteckungsgefahr im Wahlbüro sei deutlich geringer als bei jedem Supermarktbesuch, das habe man sich immer wieder bestätigen lassen. Und als Kommune müsse man bei solchen Entscheidungen sowieso auf das Gesundheitsamt, und vor allem auf die Entscheidungsträger von oben vertrauen. Den Wahlsieg heute sieht er jedenfalls als großen Vertrauensvorsprung der Wähler in ihn - damit wolle er nun mit voller Kraft weitermachen. Mit was genau, das steht an diesem Abend fest: "Das ist heute schon eine Freude, genauso mache ich mir aber Gedanken, wie das in den nächsten Tagen weitergehen wird. Der Umgang mit dem Coronavirus wird in nächster Zeit erst mal alle anderen Themen in den Hintergrund rücken." Bis er dieses herausragende Ergebnis wirklich fassen könne, brauche es noch ein paar Tage. Das wisse er noch von 2014, von seinem letzten Überraschungssieg.