Kommentar:Unbequeme, aber nötige Stimmen

Der Jugend wird zuweilen nachgesagt, sie könne die Vorteile der EU nicht wirklich schätzen. Doch die Erstwähler, die am Sonntag ihre Stimme abgeben, strafen solche Aussagen Lügen. Das ist ein Jahrgang, der sehr wohl die Bedeutung eines freien, demokratischen Europas kennt und dafür auch auf die Straße geht

Von Anika Blatz

Seit vor 40 Jahren die Direktwahl zum Europäischen Parlament eingeführt wurde, hat jeder wahlberechtigte EU-Bürger das Recht, mit seiner Stimme die europäischen Verhältnisse mitzugestalten. Wer sich an dieser Gestaltung am Sonntag zum ersten Mal beteiligen darf, wurde in den Jahren um die Jahrtausendwende geboren und ist mit diesem Privileg ganz selbstverständlich aufgewachsen. Für junge Menschen ist es nichts Ungewöhnliches, sich frei zu bewegen. Sie kennen keine innereuropäischen Grenzen, und Geschichten aus dem Krieg müssen sie in Büchern nachlesen, weil selbst ihre Großeltern diese Zeit nicht miterlebt haben. Wenn epochale Errungenschaften Normalität sind, schätzt man sie dann noch? Glüht man als 20-Jähriger für die europäische Idee, weil man sich dessen bewusst ist, dass Privilegien auch wieder verloren werden können? Auf diese skeptischen Fragen geben die Erstwähler dieser Tage eine eindeutige Antwort: Es wächst hier, auch im Landkreis, eine interessierte, kluge und politische Generation heran. Ein geradezu fulminanter Jahrgang. Zum ersten Mal richtig spürbar war das, als sich Schüler bundesweit dem zivilen Ungehorsam einer 16-jährigen Schwedin anschlossen.

Schüler, die streiken, sich an Demos beteiligen, ja sogar dem Unterricht fernbleiben und keinerlei Anstalten machen, damit aufzuhören - selbst wenn man dieser doch eigentlich zu artigen Leistungsmaschinen erzogenen Jugend mit Verweisen droht. Wie umgehen mit einem Phänomen, von dem man zuletzt in den 1980er Jahren mal was gehört hatte. Bis heute hat kaum ein Politiker hierauf eine substanzielle Antwort. Die Heranwachsenden haben wieder Ideale und gehen für sie auf die Straße. Es geht ihnen aber bei weitem nicht nur um den Klimaschutz. Sie interessieren sich für das große Ganze - und verstehen die Zusammenhänge. Die jungen Leute sind wieder das, was sie von Natur aus sein sollten: Kritisch, unbequem, weitsichtiger als die Alten. Und sie werden ihre Stimme erheben. Bei der Europawahl am Sonntag und bald auch bei den Bundes- und Landtagswahlen. Das wird unserer mittlerweile sehr konformen Gesellschaft guttun.

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