Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Für Taten ist es bald schon zu spät

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Die Befreiungsfeierlichkeiten an der KZ-Gedenkstätte Dachau sind ein starkes Signal: Das Wesentliche ist gesagt, jetzt müssen Taten gegen den wachsenden Antisemitismus im Land folgen

Von Helmut Zeller

Alles Wesentliche ist gesagt. Jahrzehntelang sind Politik, Lehrer, Justiz, Verbände, Medien und Zivilgesellschaft über die wiederholte Mahnung der jüdischen Gemeinschaft gleichgültig hinweg gegangen. 73 Jahre nach der Schoah werden jüdische Bürger wieder bedroht, verfolgt und gemobbt - und das in dem Land, das einst den Massenmord an den Juden Europas organisiert und industriell ausgeführt hat, und das sich heute gerne weltweit als Meister der Erinnerung feiern lässt. Niederschmetternd. In Dachau sagte Kultusminister Bernd Sibler (CSU), dass "in unserer Gesellschaft" Antisemitismus und die Herabwürdigung von Minderheiten keinen Platz hätten. Eben doch: 2015 zeigte eine Bertelsmann-Studie, dass 81 Prozent der Bevölkerung die Geschichte der deutschen Judenverfolgung am liebsten hinter sich lassen würden, 58 Prozent sehnten sich nach einem "Schlussstrich". Gleichzeitig gaben 48 Prozent an, eine schlechte Meinung über Israel zu haben - und bewegen sich in Nähe der infamen und absurden Gleichsetzung israelischer Politik mit dem NS-Regime. Das wirft die Frage auf, mit welchem Gefühl trampeln diese 81 Prozent eigentlich über zigtausende Stolpersteine für die Opfer der Schoah?

Nun braucht es - endlich - Taten. Die Ernennung eines Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus - übrigens: vom Zentralrat der Juden bereits vor Jahren gefordert - reicht nicht aus. Nicht nur muss in allen Bundesländern eine solche Stelle geschaffen werden, sondern vor allem braucht es in Bundes- und Länderetats viel mehr Geld für die demokratische Erziehung von Deutschen und Migranten. Es braucht eine konsequente Anwendung des Strafrechts für judenfeindliche Übergriffe - und das setzt erst einmal Sensibilität bei den Strafverfolgungsbehörden voraus. Auch bei der katholischen Kirche: Ein Seminarist, der vor fünf Jahren durch antisemitische Äußerungen aufgefallen war, erhielt jetzt in Eichstätt die Priesterweihe. Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) erklärt, "wir haben den Ernst der Lage erkannt". Aber im Koalitionsvertrag stehen lediglich ein paar lapidare Sätze über den Ausbau von Programmen gegen den Antisemitismus.

So ganz hat die Politik es noch nicht begriffen. Unter dem erstarkten Antisemitismus leiden die Juden in Deutschland (und ganz Europa). Aber er ist nicht nur ihr Problem, sondern das Problem der ganzen Gesellschaft, ein Angriff auf ihre demokratische Verfasstheit. Von der Gedenkfeier in Dachau ging das Signal dazu aus, gegen den wachsenden Judenhass aufzustehen.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2018
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