Keine Lust auf kirchliche Rituale:Bröckelnde Tradition

Lesezeit: 3 min

Die Bedeutung des kirchlichen Feiertags Allerheiligen schwindet. In den Kirchen bleiben an diesem Tag viele Plätze leer, immer weniger Menschen gedenken ihrer verstorbenen Angehörigen mit einem Besuch am Grab. Viele fahren lieber in den Urlaub

Von Thomas Hürner und clara nack, Dachau

Der weiße Nebelschleier lichtet sich allmählich, auf den Grabsteinen aus Marmor schimmern die ersten Sonnenstrahlen, ein idyllisches Lichterspiel im Herbst. Es ist acht Uhr morgens, zwei Tage vor Allerheiligen, und der Ort der ewigen Ruhe erwacht langsam. In grellem Orange gekleidete Arbeiter kehren Laub zusammen, zwei ältere Damen laufen durch die gußeisernen Tore in den Dachauer Stadtfriedhof, eine weitere pflanzt bereits Blumen am Grab ihres verstorbenen Mannes. Seinen Liebsten solle man zwar jeden Tag gedenken, findet sie, "aber Allerheiligen ist ein Anlass, das gemeinsam zu tun."

Wer die Tradition noch wahrt, der tut es mit großem Familienaufgebot undviel Sorgfalt. (Foto: Toni Heigl)

Damit unterliegt sie eigentlich einem fortschreitenden Irrtum, den verstorbenen Verwandten und Freunden wird nach katholischer Tradition an Allerseelen gedacht. Viele feiern Allerseelen inzwischen aber einen Tag im Voraus an Allerheiligen, dessen eigentliche Bedeutung damit zunehmend aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet. Diese Entwicklung hat pragmatische Gründe, ist aber auch auf eine veränderte Interpretation des Glaubens zurückzuführen. "Die Heiligen haben nicht mehr so eine große Bedeutung wie früher", erklärt Barbara Niedermeier, die Gemeindereferentin des Pfarrverbands St. Jakob. Es werde inzwischen "eher der direkte Weg zu Gott gesucht und nicht mehr über die Vertreter im Himmel." Dass der eine Festtag mehr und mehr vom anderen überdeckt wird, könne an einer "Individualisierung des Glaubens" liegen, vermutet Niedermaier. Persönliche und familiäre Bezüge seien unter den Menschen mehr in den Fokus gerückt, das traditionelle Allerheiligen hingegen mit seinen Bräuchen und Ritualen fange langsam an zu bröckeln.

Zu Allerheiligen segnet Pfarrer Wolgang Borm die Gräber auf dem Dachauer Stadtfriedhof. (Foto: Toni Heigl)

Dass in den Kirchen an diesem Tag immer mehr Plätze leer bleiben, liegt aber vor allem an der Ferienzeit und einem "neuen kommerziellen Trend", glaubt Niedermaier: Halloween. Gerade für junge Menschen mit Feierlust sei der amerikanische Brauch, der auch in Deutschland immer mehr Einzug erhält, geradezu ideal. Zwar herrsche auch unter ihnen eine "Sehnsucht nach Ritualen und Halt", sagt Niedermaier, die kirchlichen Angebote in dieser Hinsicht würden bei jungen Menschen aber kaum mehr wahrgenommen.

Bis Donnerstag wird hier noch einiges gepflanzt. (Foto: Toni Heigl)

Am Nachmittag haben sich inzwischen viele ältere Leute auf dem Stadtfriedhof eingefunden, am Himmel hängen jetzt graue Wolken. Innerhalb der roten Ziegelmauern wird gegraben und gepflanzt, bei manchen von ihnen ist Zuhause mittlerweile Besuch eingetroffen, extra angereist für den Feiertag. Eine ältere Dame erzählt, das könne fast so anstrengend wie Weihnachten werden, aber auch, dass das Interesse an der Tradition abhanden gekommen sei. Für andere bieten sich die Feiertage für einen Urlaub an. "Aber irgendwann liegt man ja selbst mal da", meint die ältere Dame. Da wolle man doch, dass mit der Erinnerung genauso umgegangen werde. In Bayern sei vergleichsweise noch viel Programm, vor allem wenn man an andere Bundesländer denkt, wo am Feiertag nicht einmal mehr eine Prozession stattfindet. Dass in ländlichen Gegenden noch mehr Familien auf die Grabpflege achten und man die Relevanz von Allerheiligen an dem regen Treiben auf den Friedhöfen sieht, betonen auch andere Angehörige, die auf dem Stadtfriedhof noch hektisch die Gräber herrichten. Gabi Fleischmann, geboren in Dachau und vor Jahren mit der gesamten Familie nach Bamberg gezogen, erzählt, dass sie gerade erst das Grab ihrer Urgroßeltern verlängert habe. "Was wär', wenn nichts mehr da wär'?", fragt sie. "Auf dem Waldfriedhof liegen alte Dachauer Bürger, die Dachau ausgemacht haben." Während sie mit ihrem Mann einen Busch auf dem Grab ihrer Urgroßeltern pflegt, der schon lange keinen neuen Anschnitt mehr bekommen hat, erzählt sie, dass sie die meditative Ruhe der Arbeit genieße: "Das ist irgendwie magisch hier."

Den Friedhofsgärtnern der Stadt lässt der näherrückende Feiertag hingegen keine Ruhe. "Bis zum Donnerstag muss hier alles blitzeblank sein", weiß Friedhofsgärtner Georg Roth. Auch er sieht den Trend der Trauerkultur "nicht nach oben gehen", immer weniger Familien würden ihren Verstorbenen gedenken. Das äußere sich keinesfalls in der Grabpflege, sondern vielmehr an der Präsenz auf dem Friedhof - für die Grabpflege können auch Gärtnereien engagiert werden, das ist bekannt. "Allerheiligen geht es für uns um sechs Uhr morgens los", meint sein Kollege Kaspar Höckmayer. Mit den gedenkenden Verwandten, die Familiengräber noch besuchten, gebe es sonst Ärger. Denn Allerheiligen ist ein besonderer Tag, an dem alles stimmen muss, so scheint es.

Die Gräber auf dem Stadtfriedhof Dachau reihen sich eng aneinander, zwischen ihnen findet sich aber noch die ein oder andere Lücke, die wahrscheinlich niemals gefüllt wird. Bereits seit einigen Jahrzehnten gibt es dort keine Neuvergaben mehr für die letzte Ruhe. Dafür gibt es zwei Gründe, erklärt Hauptamtsleiter Josef Hermann. Zum einen liege das an der Bodenqualität, die lehmige Beschaffenheit des Untergrunds habe sich als kontraproduktiv für die Verwesung erwiesen. Außerdem seien die Flächen für die Gräber zu klein, sagt Hermann, deshalb habe es bei Arbeiten an den Ruhestätten immer wieder gefährliche Situationen gegeben. "Es musste bis vorne an den Grabstein gegraben werden, diese drohten dann umzufallen." Deshalb habe die Berufsgenossenschaft interveniert und den Bestattungen unter der Erde einen Riegel vorgeschoben. Das ist aber kein Problem, erklärt Hermann: "Der Trend geht zur Urnenbestattung", sagt er, "und einen Platzmangel haben wir aufgrund der noch vorhandenen Flächen auf dem Waldfriedhof auch nicht."

© SZ vom 31.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: