Süddeutsche Zeitung

Karlsfeld:Von der Moossiedlung zur Großgemeinde

Im Jahr 1802 wurde Karlsfeld gegründete, eine ärmliche Ansiedlung von acht Häusern und 34 Einwohnern in einem Sumpfgebiet. Zu den ersten Siedlern gehörten auch die Vorfahren von Josef Pscherer. Als Vorsitzender des Heimatmuseums erforscht er nun Karlsfelds Geschichte

Von Anna Schwarz

Dort, wo heute Karlsfelds Einkaufsmeile, die Neue Mitte, liegt und jeden Tag Tausende von Autos an der B 304 vorbeirauschen, grasten bis in die 80er-Jahre die Schafherden von Leonhard Wöger. Gegenüber lagen die Bauernhöfe der Familien Eberle und Loderer. Und genau dort, wo heute die zweite Autospur der Münchner Straße verläuft, hat Josef Pscherer, 70, im Sandkasten gespielt. Er ist in den 50er-Jahren auf einem Bauernhof aufgewachsen mit rund zehn Mutterkühen, sechs Stück Jungvieh, sechs Schweinen und 40 Hühnern - mitten in Karlsfeld.

Bis Anfang der 1960er Jahre existierten in dem Dorf noch rund 15 Bauernhöfe. Heute zählt die Gemeinde mehr als 20 000 Einwohner, 1952 waren es noch 2946. Mittlerweile ist Pscherer Vorsitzender des Heimatmuseums Karlsfeld und erforscht seine Familiengeschichte, denn seine Vorfahren gehören zu den ersten Siedlern in der Gemeinde. Gemeinsam mit den Karlsfelder Heimatforschern Ilsa Oberbauer, und Horst Pajung, schaut er beim Interview im Museum darauf zurück, wie sich Karlsfeld vom einstigen Bauerndorf zu einem der teuersten Pflaster für Mieter in Deutschland entwickelt hat.

Offiziell gegründet wurde Karlsfeld im Jahr 1802 mit acht Häusern und 34 Einwohnern: König Max Joseph I. hatte damals angeordnet, das dortige Moos urbar zu machen, so recherchierte es Ilsa Oberbauer. 2002 hat sie die Chronik "200 Jahre Karlsfeld" veröffentlicht. "Der König brauchte damals Land, um die Großstadt München zu versorgen", erzählt sie. Die heutige Vorstadtgemeinde war damals eine "riesige Sumpflandschaft", die trockengelegt werden musste, es gab lediglich eine Handelsstraße von München nach Augsburg.

Ihren Namen verdankt die Gemeinde dem zweitältesten Sohn von Max Joseph I., Karl Theodor. Damals kamen auch Familien aus anderen Teilen Bayerns nach Karlsfeld: Ihnen wurde dort ein Stück Land angeboten, unter anderem auch den Ahnen von Josef Pscherer. Seine Vorfahren stammen aus dem oberpfälzischen Grafenwöhr, waren Tuchmacher und in Karlsfeld jahrzehntelang unter dem Hausnamen "Tiachler" bekannt. Das Bauerndorf, in dem sie einst wohnten, veränderte sich rasant.

Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Industrialisierung in Karlsfeld, große Firmen wie die Bayerischen Motorenwerke (BMW) und MAN siedelten sich an, erklärt Pajung: "Während des Zweiten Weltkriegs warfen Briten und Amerikaner Bomben auf die Werkshallen ab, weil BMW mit den Flugmotoren eine kriegswichtige Industrie war." Es ging glimpflich aus, erklärt Pajung: "Eine Stunde vor den Bombenabwürfen gab es einen Alarm, und rund um die Gebäude wurde alles großflächig vernebelt, damit die Werke aus der Luft nicht mehr erkennbar waren." Die BMW-Ansiedlung hat auch eine sehr dunkle historische Komponente: Gegenüber dem Werk entstand ab Herbst 1942 auf einem Ackergelände östlich der Dachauer Straße das KZ-Außenlager Dachau-Allach; mehr als 10 000 Gefangene mussten dort für den Flugmotorenbau schuften.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine neue, ebenfalls sehr prägende Phase für Karlsfeld, da sind sich Oberbauer, Pajung und Pscherer einig: 1945 kamen Heimatvertriebene aus dem Sudetenland und Schlesien nach Karlsfeld. Die Bevölkerungszahl verdreifachte sich zwischen 1950 und 1960 von rund 2000 auf rund 6600 Einwohner. Pajung fasst Karlsfelds Vorzüge so zusammen: "Es gab Arbeitsplätze, eine Verbindung nach München und damals noch viel Land zu bebauen." Ursprünglich stammt der Elektroingenieur aus Ostfriesland und zog vor rund 35 Jahren aus beruflichen Gründen nach Karlsfeld.

Ilsa Oberbauer musste als Siebenjährige mit ihrer Familie aus dem böhmischen Tachau an den Tegernsee flüchten und begann in den 1960er Jahren als Grundschullehrerin in Karlsfeld - damals begann dort der große Bau-Boom, die ersten Hochhäuser entstanden. "Die Gartenstraße war noch nicht mal geteert", sagt sie und lacht. Außerdem stand damals zur Debatte, die Tram-Linie 1 von Moosach nach Karlsfeld zu verlängern, erinnert sich Pscherer: "Für unsere Familie stand deswegen fest: Dann können wir nicht mehr mit dem Mähdrescher auf der Münchner Straße fahren." Der Bauernhof wurde also nach und nach aufgegeben, Pscherer wurde nicht Landwirt, sondern Lehrer und arbeitete rund zwei Jahrzehnte als Rektor an der heutigen Grund- und Mittelschule Bergkirchen.

In den 70er Jahren rechnete man wegen des anhaltenden Zuzugs auch aus dem Ausland mit einer Bevölkerungsexplosion auf 40 000 Einwohner; die CSU machte mit dem Slogan "Karlsfeld - unsere kleine Stadt" Wahlkampf. Doch mit der ersten Ölkrise 1973 gab es einen großen Wirtschaftseinbruch, so Pajung: "Dann sind Karlsfelds Einwohnerzahlen erst mal zehn Jahre gleichgeblieben."

In den 80er- und 90er-Jahren wurde das Bürgerhaus in Karlsfeld errichtet und das TSV-Sportzentrum entstand. Das seit 1923 ansässige Bayernwerk zur Stromversorgung wurde in den 90er-Jahren privatisiert, daraus entstand Eon. Doch Pajung erklärt: "Eon hatte irgendwann kein Interesse mehr an dem Standort Karlsfeld" - und damit gingen zweistellige Millionenbeträge an Gewerbesteuern flöten. Das ehemalige Bayernwerkgelände lag zunächst brach. Mittlerweile gehört das Gelände der Investorengruppe Erl und Streicher, dort sind unter anderem Eigentumswohnungen für Senioren entstanden. Anwohner wünschen sich seit Jahren einen Supermarkt, doch der lässt weiter auf sich warten.

Ein politischer Dauerbrenner war jahrelang die Entwicklung der Neuen Mitte in Karlsfeld; damit sollte die Gemeinde ein richtiges Ortszentrum bekommen. Aber dagegen formierten sich Bürgerinitiativen; sie kanzelten die Pläne zur Neuen Mitte als "Wohnghetto" ab, von "Billigbauweise" und "Klein-Manhattan" war die Rede, von "Verkehrschaos" und so viel Radau, dass sich die Leute in der Gartenstraße auf eigene Kosten Lärmschutzfenster würden einbauen müssen. 2016 konnten die Geschäfte in der Neuen Mitte schließlich eröffnet werden. Doch an einem richtigen Ortszentrum fehlt es in Karlsfeld weiterhin, kritisiert Pajung: "Ich würde mir ein kleines Kneipenviertel wünschen. Hier gibt es zwar viele Wirtschaften, aber es ist alles zergliedert." Josef Pscherer sieht die B 304 als großes Problem für die Gemeinde Karlsfeld: "Der ganze Landkreis fährt da entlang, und wir sind die Leidtragenden dieser Achse." Die einzige Lösung für ihn heißt: Weg vom Individualverkehr!

Auch für die Jugend legt der ehemalige Rektor ein Wort ein: "Abseits von unserem Sportverein gibt es leider nur wenige Angebote, wo sich Jugendliche treffen können." Dennoch gibt es einiges, das Karlsfeld wahnsinnig lebenswert macht, lobt Pajung: "Wir haben viele Sportanlagen und Radwege, rund 20 Tennisplätze, sind nah an Dachau und München", das ist wohl auch ein wichtiger Grund, warum immer mehr Menschen in die Gemeinde ziehen und die Mietpreise in die Höhe schießen. "Wir sind geprägt von Zuzug aus München, die Menschen sind meist gut betucht und können sich die immer höheren Mieten und Kaufpreise leisten." Denn das einstige Bauerndorf in der Sumpflandschaft liegt nun in der Metropolregion München.

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SZ vom 15.01.2022
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