Die Bilder ihrer Flucht tragen sie immer mit sich, im Kopf und auf dem Handy. Überfüllte Boote auf stahlblauem Wasser. Polizisten mit Schlagstöcken. Grenzzäune. Massenlager. Immer wieder haben sie festgesteckt. Manchmal wurden sie wochenlang von Behörden festgehalten oder eingesperrt. Jetzt haben sie es geschafft, jetzt sind sie da. Aber es wäre falsch zu sagen, sie wären angekommen.
"Deutschland ist ein guter Ort", sagt ein Mann, der aus Uganda geflohen ist. "Aber wenn ich hier bin, habe ich nicht das Gefühl in Deutschland zu sein." In der Traglufthalle im Karlsfelder Gewerbegebiet lebt er zusammen mit knapp 280 anderen Flüchtlingen. Es sind junge Männer, aus Pakistan, Nigeria und dem Senegal. Männer, die hier keiner kennt, Niemande im Nirgendwo. Ringsum gibt es nur Acker, Krähenschwärme, Fabrikhallen.
Ein Entwässerungsgraben ist um die Halle gezogen, die wie ein riesiges aufblasbares Kissen in der Landschaft steht. Um das Gelände verläuft ein Bauzaun, dahinter wacht ein Sicherheitsdienst. Selbst die Ehrenamtlichen vom Helferkreis kommen nur mit einem Ausweis des Landratsamts hinein und nie mehr als 20. Immer wieder gibt es Randale und Tumulte in der Halle, immer wieder muss die Polizei anrücken. Am vergangenen Sonntag kamen gleich 40 Einsatzkräfte angerannt. Von einer Massenschlägerei mit 80 Beteiligten war die Rede, Flüchtlinge gegen Sicherheitsdienst, Steine seien geflogen.
Inzwischen hat die Polizei mitgeteilt, dass wohl alles halb so wild war. Die erste Alarmmeldung: extrem aufgebauscht. Es gab sieben Leichtverletzte, zwei Festnahmen. Trotzdem war die Reaktion der Beamten nicht übertrieben: Die Traglufthalle ist ein Ort voller Spannungen. Damit sie sich entladen, genügen nichtige Anlässe. "Wir zoffen uns um Kleinigkeiten, ums Fernsehprogramm, um Zigaretten", erzählt der Kurde Yalcin Celal. "Es ist schwierig für uns, es hier drin auszuhalten, ganz ohne Privatsphäre."
Es ist furchtbar laut in der Halle - auch nachts
Sechs Männer leben in einem winzigen Raum. Es ist furchtbar laut, auch in der Nacht. Die Flüchtlinge finden keine Ruhe. "Wenn nur einer atmet, hört man das", sagt Osadolor Godstime aus Nigeria. Und hier atmen, schnaufen und schnarchen fast 300 Mann - wenn sie sich nicht gerade lautstark unterhalten oder telefonieren. Eine Tür zu den Wohnparzellen gibt es nicht, eine Decke auch nicht. Das muss so sein wegen des Brandschutzes und damit die Luft zirkulieren kann. Die Gerüche der Sanitäranlagen, des Essens und die menschlichen Ausdünstungen werden dabei gnadenlos zusammengerührt. Wer an die frische Luft will, muss durch eine Schleuse. Erst wenn die eine Tür zu ist, darf man die andere aufmachen. Sonst fällt der Druck in den Wänden ab und die Decke kommt runter.
In Neubiberg ist das kürzlich passiert, die Bilder waren dramatisch. In den Medien gab es danach gleich Diskussionen, ob man Traglufthallen, die sonst für eher lustige Veranstaltungen wie Tennisturniere genutzt werden, wirklich einsetzen sollte, um Flüchtlinge unterzubringen. Dabei haben die Bewohner selbst sich gar nicht groß darüber aufgeregt. In Karlsfeld hat sich die Decke auch schon mal abgesenkt. Schlimmstenfalls würde die Folie auf den Traggerüsten und Containern zum Liegen kommen. Die Fluchtwege blieben frei.
"Wir sitzen den ganzen Tag in der Halle fest"
Das Problem ist nicht, dass den Flüchtlingen die Folie auf den Kopf fällt, sondern die sprichwörtliche Decke. "Wir sitzen den ganzen Tag in der Halle fest", klagt Ahmad Shabaz aus Pakistan.Im Gemeinschaftsbereich gibt es Sitzgruppen mit gemütlichen Sofas, sogar Yucca-Palmen hat man aufgestellt. Und doch können solche Accessoires nicht über die Unwirtlichkeit dieses Ortes hinwegtäuschen.
Die Halle ist wie eine riesige Blase aus Folie, es gibt keine Fenster, den ganzen Tag sitzen die Flüchtlinge im künstlichen Licht. Viele können nachts nicht schlafen, manche stehen erst vormittags auf. "Manchmal habe ich das Gefühl, das ist alles nur ein Traum", sagt ein Afrikaner, der seinen Namen lieber für sich behalten möchte. "Dann denke ich, dass jemand kommen müsste und mich aufweckt. Es ist schwer, hier keine schlechten Gedanken zu haben. Die ganze Zeit denke ich an die Vergangenheit. Ich denke an die Zukunft. Ich denke an meine jetzige Situation. Die Gedanken gehen immer im Kreis. Man kommt nirgends raus."
Die Traglufthalle ist wie eine Zwischenwelt - weit weg von Zuhause und zugleich abgekoppelt von der deutschen Gesellschaft. Man kann nicht reinschauen, man kann nicht rausschauen. Auch für die Menschen draußen ist sie ein Sinnbild geworden: für ein System, das an seine Grenzen stößt. Die Behörden sehen sich gezwungen, die Standards immer weiter herunterzuschrauben. Recht viel mehr, als die Flüchtlinge zu ernähren und warm durch den Winter zu bringen, ist kaum noch drin.
Die Standards der Unterbringung sinken
Als die Karlsfelder Traglufthalle eingeweiht wurde, stimmte Landrat Stefan Löwl (CSU) eine Rede an, die man schwerlich als Festrede bezeichnen kann. "Traglufthallen - das hätten wir uns vor einem dreiviertel Jahr noch nicht vorstellen können", sagte er. Aber so viele Wohncontainer aufzutreiben, wie es die wachsende Zahl der Flüchtlinge erfordert hätte, war nicht möglich. Deswegen die riesige Traglufthalle.
Und genauso geht es jetzt weiter. Auch an der Theodor-Heuss-Straße in Dachau soll demnächst eine Traglufthalle hochgezogen werden, im Gewerbegebiet Bergkirchen an der Eisolzrieder Straße steht bereits eine; noch vor Weihnachten soll sie bezogen werden. Alle Hallen haben die gleiche Größe, das gleiche Konzept. Den gleichen Lieferanten: Paranet aus Berlin. Die Firma kann sich vor Aufträgen kaum retten. Jede Woche lässt das Unternehmen eine neue Traglufthalle herstellen. Inzwischen machen Notunterkünfte 20 Prozent des Umsatzes aus, sagt Jürgen Wowra, Geschäftsführer von Paranet. Das ist ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass es diesen Geschäftszweig erst seit zwei Jahren gibt.
Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales wusste damals nicht, wie es seine Obdachlosen auf die Schnelle unterbringen sollte. Da kam der Unternehmer mit seinen aufblasbaren Hallen gerade recht. Wowra macht keinen Hehl daraus, dass seine pfiffig ausgetüftelten Traglufthallen keine idealen Unterkünfte sind. "Sie sind nicht dafür gemacht, um dauerhaft darin zu leben." Aber ein paar Wochen, sagt er, vielleicht sogar bis zu einem halben Jahr könnten es die Bewohner darin schon aushalten. Die Erfahrungen sind ja nicht schlecht. Jedenfalls nicht überall. "In manchen Traglufthallen läuft es sehr gut, in anderen weniger", sagt Wowra. Das hänge stark vom Betreiber ab. Wo die Flüchtlinge in die Verantwortung für die Halle eng mit eingebunden würden, funktioniere es bestens. In Karlsfeld klappt es - das muss man leider sagen - nicht besonders gut.
Schon ehe es den Ärger in der Traglufthalle gab, forderte der Dachauer Landrat im ZDF-Morgenmagazin, man müsse die Flüchtlinge notfalls mit Sanktionsmaßnahmen disziplinieren, eben deshalb, weil sie die ihnen übertragenen Aufgaben nicht erledigten. Löwls Beitrag konnte man als Hilferuf eines Behördenleiters verstehen, der an die Grenzen seiner organisatorischen Möglichkeiten kommt. Aber viele nahmen es als politische Botschaft wahr: Gegen die wachsende Zahl von Flüchtlingen.
Das hat begeisterten Beifall ausgelöst, aber auch wütende Proteste. Die Stimmung ist aufgeheizt, nicht nur in der Traglufthalle. In den virtuellen Debattierstuben prallen "Gutmenschen" und "Nazis" aufeinander. Eine sachliche Diskussion ist längst unmöglich geworden. Jeder Zwischenfall löst Grundsatzdiskussionen aus und reflexhafte Überreaktionen. "Jetzt reicht's, die gehören abgeschoben", poltert es in den sozialen Netzwerken. Oft ist von Undankbarkeit die Rede. "Vielleicht hat ja der Bayerische Hof noch Zimmer frei."
Wenn die Leute lesen, dass Flüchtlinge sich wegen des Essens in den Unterkünften beschweren, fühlen sie sich bestätigt: Ist das nicht der Beweis, dass es diesen Leuten bei uns viel zu gut geht? "Ich bin nicht gekommen, um zu essen oder zu schlafen", sagt Osadolor Godstime. "Aber es ist auch nicht gut, wenn man schlechtes Essen bekommt und die ganze Zeit nicht schlafen kann." Vor allem die Pakistaner haben Probleme mit der Verpflegung. Sie sind nicht gewohnt, so viel Brot zu essen, wie ihnen der Caterer vorsetzt. Selber kochen dürfen sie nicht in der Traglufthalle. Brandschutz. Aber schlafen muss jeder. Und essen auch. Das sind Grundbedürfnisse.
Was Krawall bewirkt? Aufmerksamkeit
Vor einigen Wochen hat jemand versucht, die Folie der Traglufthalle anzuzünden. Ein unzufriedener Flüchtling? Vielleicht. Man weiß es nicht. Der Landrat ordnete den Vorfall juristisch gleich als Versuch schwerer Brandstiftung ein. Nach dem Vorfall entschuldigen sich Sprecher der Flüchtlinge dafür bei Vertretern des Landratsamts. Normalität ist das zum Glück nicht. Von den 20 Traglufthallen, die Paranet als Notunterkünfte im Einsatz hat, wurden nach Auskunft von Geschäftsführer Wowra erst zwei mutwillig beschädigt - Karlsfeld ist da bereits mit eingerechnet. Ein Einzelfall also.
Der Landrat macht einzelne Rädelsführer verantwortlich, die angeblich Unruhe in der Traglufthalle stiften und die vielen friedfertigen Flüchtlinge zu Krawall anstacheln. Aus anderen Massenunterkünften in Deutschland, wo es ähnliche Vorfälle gegeben hat, weiß man, dass die Flüchtlinge oft das Gefühl haben, mit ihren Anliegen bei den Unterkunftsbetreuern nicht durchzudringen. Und tatsächlich, eines haben die Krawalle bewirkt: Aufmerksamkeit.
Als die Zündelei bekannt wurde, kam der Landrat sofort von der Kreistagssitzung in seiner schwarzen Dienstlimousine angebraust. Mit Blaulicht und Sirene. Karlsfelds Bürgermeister und Kreisrat Stefan Kolbe (CSU) traf kurze Zeit später ebenfalls ein, allerdings ohne Tatütata. Und siehe da: Auf einmal waren doch Verbesserungen möglich. Jetzt gibt es ein Raucherzelt auf dem Gelände, für die frierenden Flüchtlinge sammelt der Helferkreis warme Kleidung und der Sicherheitsdienst ist angewiesen, nachts für mehr Ruhe zu sorgen, damit die Leute endlich schlafen können.
Nicht alle haben Interesse daran, dass Reibungs- und Konfliktpunkte entschärft werden. Ein User, der laut eigenem Profil "die europäische Zivilisation gegen Islamisierung verteidigen" will, twitterte nach dem klärenden Gespräch von Flüchtlingen und Behörden: "Landratsamt verstärkt Kooperation mit den Brandstiftern." Man merkt dieser Tage, wie gefährlich unbedacht gesprochene Worte werden können.