Jugendliche erkunden zeitgenössische Kunst  :Immer schön lächeln

„Schüler führen Schüler“ in der Ausstellung von Katharina Sieverding

Lauren Müller und Nele Behrens aus der zehnten Jahrgangsstufe im Josef-Effner-Gymnasium betätigen sich ebenfalls als Kunstführer.

(Foto: Volksbank)

Jugendliche führen ihre Mitschüler durch die Ausstellung der berühmten Fotokünstlerin Katharina Sieverding im Dachauer Schloss. Obwohl die Arbeiten komplex und vielschichtig sind, finden auch Siebtklässler Zugang zum Werk, denn darin geht es um viele Themen, die sie selbst umtreiben

Von Helen Krueger-Janson, Dachau

Sie sitzen ans Geländer gepresst, manche auf der Bank, viele Schüler hocken im Schneidersitz auf dem Boden. Der eine lacht und witzelt mit seinem Nebenmann, was sie jetzt wohl erwartet. Insgesamt 26 Siebtklässler des Josef-Effner-Gymnasiums (JEG) in Dachau tummeln sich auf dem Parkettboden des Dachauer Schlosses. Vor ihnen steht Finn Walter, selbst Zehntklässler des JEG und von Schulleiter Peter Mareis für seine Teilnahme an der Aktion "Schüler führen Schüler" vom Unterricht befreit. Hinter Finn ragt das riesige Selbstporträt der Fotokünstlerin Katharina Sieverding in die Höhe, von der blauen Färbung und kreisförmigen Rasterung sind ihre Züge fast unkenntlich. Mit einem Siebtklässler hat das Werk zunächst einmal wenig zu tun. Und so schnattern sie wild durcheinander, der eine neckt den anderen, links tuscheln die Mädchen über Finn: "Der ist doch bei uns auf der Schule!" Und genau dieser Schulkamerad hat jetzt die herausfordernde Aufgabe, den von jugendlicher Energie strotzenden Pulk mit der Ausstellung einer höchst assoziativen und mit allerlei Querverweisen arbeitenden Künstlerin vertraut zu machen. "Sie sind im Kopf noch total durcheinander", erklärt Kunstlehrerin Margit Meyer das aufgedrehte Verhalten ihrer Klasse. Finn zeigt auf den großen Spiegel in der Mitte von zwei halbabgedunkelten Selbstporträts. "Wie hat die Künstlerin das Bild gemacht?", fragt Finn. "Sie hatte keine Kamera und sie war allein im Raum". Die Worte "Selfie" und "Selbstauslöser" schallen durch den Raum mit der hohen Holzkassettendecke. Aber das Bild ist aus dem Jahr 1969, da war das Smartphone noch Lichtjahre von der Kunst entfernt. "Tatsächlich saß Sieverding in einem Fotoautomaten", erzählt Finn. "Etwas, was wir heute nur noch selten und wenn zum Spaß oder für Passfotos benutzen." Das eigene Handy übernehme jetzt in der Regel die täglichen Selbstporträts. Finn erklärt, dass Sieverding mit der halbseitigen Abdunklung den Unterschied von der inneren und äußeren Wahrnehmung eines Menschen habe darstellen wollen. "Ihr kennt das vielleicht", sagt er. "Da ist man nicht besonders gut drauf und trotzdem versendet man ein Selfie, auf dem man lacht. Das macht eigentlich keinen Sinn -aber warum machen wir es dann trotzdem?"

Die Mädchen in der Runde scheinen kurz zu erstarren. Fangen dann an hektisch die Köpfe zu ihren Freundinnen zu drehen. Finn scheint einen sensiblen Punkt in ihrem persönlichen Handygebrauch getroffen zu haben. Und auf einmal hat Sieverding mit ihrer Kunst doch eine Bedeutung für die Zwölfjährigen: die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, vor allem mit der Selbstdarstellung, treibt Teenager um, die Mädchen wie die Jungs. Zwei von ihnen hatten sich davor noch lässig an die alte Herkulesstatue im Aufgang des Schlosses gelehnt gehabt; als Zwölfjährige neben einem Halbgott posieren - sieht ja auch irgendwie geil aus.

Der Kunstführer Finn hat jetzt definitiv die Aufmerksamkeit der Schüler und führt sie durch den politischsten Teil der Ausstellung, einer Reihe hochformatiger Papierfotoarbeiten in einer Installation, die den gesamten Festsaal des Schlosses durchzieht. Den pummeligen nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un erkennen sie sofort. "Der Kim!", schreit einer der Jungen und schüttelt leicht abschätzig den Kopf. Das Bild, Größe 2,5 auf 3,5 Meter, zeigt den nordkoreanischen Befehlshaber gut gelaunt mit seinen Offizieren in einer gigantischen Amazon-Warenlagerhalle in Phoenix, Arizona. Und tatsächlich, Finn erklärt, dass er seiner Gefolgschaft hier schon diktiert, welche Produkte er als nächstes gerne bestellen würde. Er mahnt die Schüler auch an, über ihr eigenes Konsumverhalten ein bisschen nachzudenken.

Die Schüler kommen jetzt in das Alter, in dem komplexe Kunst beginnt, spannend zu werden, wenn man einmal den Faden aufgenommen hat. Das gelingt nicht immer auf Anhieb, manchmal gibt Finn ein paar Anstöße, die aber dann rasch in eine gemeinsame Erkenntnis münden. "Bei jüngeren Kindern muss man dann mehr kreative Freiheit und Entdeckungsmöglichkeit schaffen", betont Kunstlehrerin Meyer. Finn lotst die Gruppe vor das nächste Plakat. Es zeigt die Luftaufnahme von Zaatari, dem größten Flüchtlingslager in Jordanien mit knapp 80 000 Bewohnern. Darüber hat Sieverding hat das Bild eines russischen Bombenflugzeugs gelagert, das Soldaten gerade mit Raketen beladen, um syrische Rebellen zu bekämpfen. Die Schüler rätseln, vereinzelt melden sich Mädchen ganz zaghaft, erkennen die einzelnen Bilder nicht so richtig, vielleicht ist das auch ein bisschen zu viel verlangt. Als Finn ihnen dann auf die Sprünge hilft, wird die Gruppe still. Sie alle wissen, trotz ihres jungen Alters, wie dramatisch die Situation vieler Flüchtlinge ist. Das sind Menschen, die ganz andere Sorgen haben als ihre eigene Selbstdarstellung und auf einen Schlag wirken die Selfie-Späße aus dem Vestibül des Schlosses ein wenig lächerlich. Dass Sieverding das Bild dann auch noch den Titel "Global Desire II" genannt, erhöht diese Wirkung zusätzlich.

Neben Finn führen zwei andere Mädchen des JEG Schülergruppen durch Sieverdings Ausstellung "Am falschen Ort II". Finns Mitschülerin Lauren Müller hat ihre Erlebnisse aus dem Kunstunterricht während ihres Auslandsjahres in den Vereinigten Staaten in ihre Führungen miteinfließen lassen. So können sich die Fünftklässler zu den einzelnen Fotos Geschichten überlegen und sie sind ganz wild darauf, ihre eigene Vision der Gruppe vorzuführen. Die jungen Museumsführer versuchen so den Schülern zu erklären, dass sie hier genau am richtigen Ort sind. Dort, wo die Kunst sich aus dem Lehrplan lehnt und zum Mittel politischer, selbstreflexiver Aufklärung wird.

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