Jugendarbeit in den Zwanzigerjahren:Der Herr Pfarrer führt Regie

Die Ausstellung im Bezirksmuseum Dachau zeigt, wie stark die Kirchen nach dem Ersten Weltkrieg das Laientheater im Landkreis geprägt haben. Die Aufführungen fanden im Wirtshaus statt

Von Gregor Schiegl, Dachau

Das Jahr 1918 markierte eine tiefe Zäsur in Europa: Der erste industrielle Krieg hatte den Kontinent verwüstet, die alte Ordnung lag in Trümmern, Kaiser Wilhelm II. musste abdanken, auch im Königreich Bayern war die Monarchie der Wittelsbacher beendet. Im Dachauer Bezirksmuseum ist seit Ende April eine Ausstellung über die Geschichte des Laientheaters im Dachauer Land zu sehen. Darin zeigt die Ausstellungsmacherin Ursula Nauderer, dass die Erschütterungen dieser Katastrophe auch für die Dachauer Schauspiellandschaft nicht ohne Folgen geblieben sind; dass das Theater in dieser Phase des Zusammenbruchs als moralische Lehranstalt eine Renaissance erlebte; und dass diese Renaissance an alte, um nicht zu sagen uralte Traditionslinien anknüpfte. So ist gerade dieser Aspekt der noch bis 27. Januar 2019 dauernden Ausstellung eine nähere Betrachtung wert.

Man darf sich Dachau nach 1918 nicht als idyllisches Fleckchen fernab des Weltgeschehens vorstellen. 1919 war Dachau Schauplatz blutiger Kämpfe: Die Rotarmisten fochten für die Münchner Räterepublik. Im "Alten Wirt" zu Karlsfeld hatte der Schriftsteller und Revolutionsführer Ernst Toller sein Lager aufgeschlagen. Es waren unruhige Zeiten, viele Männer waren im Krieg geblieben oder kehrten verstümmelt und als schwer traumatisierte "Zitterer" zurück. Heute würde man wohl eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren. Welchen Werten sollte die Jugend da noch folgen und welchen Autoritäten? Wer sollte ihnen Sinn und Richtung geben?

Jugendarbeit in den Zwanzigerjahren: Eine Schauspielgruppe aus dem Landkreis um 1920.

Eine Schauspielgruppe aus dem Landkreis um 1920.

(Foto: Toni Heigl)

Die Kirche füllte dieses Vakuum. In den ländlichen Gegenden, etwa in Westerholzhausen, waren es häufig theateraffine Lehrer, Pfarrherrn und Kaplane, die Theatergruppen gründeten und auch selbst leiteten. Die kirchliche Seelsorge beider Konfessionen sah darin, eine Möglichkeit, Einfluss auf die Jugendlichen zu gewinnen, um sie zu einem moralisch und sittlich, nach christlichem Vorbild geführten Lebenswandel anzuhalten. "Im Grunde war das eine Frühform der Jugendarbeit", sagt Ausstellungsmacherin Ursula Nauderer. Gespielt wurde im Wirtshaus, wohin die Burschen sowieso kamen, des guten Bieres wegen, dem sie als Darsteller aber nicht in dem Maße zusprechen konnten, wie sie es sonst gewiss getan hätten.

Ein "Spezialheft für ländliche Vereine" , das sich ausdrücklich an Spielleiter christlicher Volksbühnen wendete, lieferte erbauliche Stoffe für die Bühne. Dass diese Hefte auch im Dachauer Raum zum Einsatz kamen, belegt ein Fund im ehemaligen Pfarrhaus von Pellheim im Jahr 2016. Nauderer bekam den großen Pappkarton mit diversen Jahrgängen der "Jungmänner-Bühne" für ihren Museumsfundus; unter anderem fanden sich darin die Laienschauspielstücke "Der Wildschütz" (1919), "Christentreue" (1920) und der Schwank "Die beiden Tanten" (1931). Dazu gab es Bühnenskizzen, Regie- und Beleuchtungshinweise für eine "sofortige praktische Verwendung".

Jugendarbeit in den Zwanzigerjahren: Martialisches Spektakel: Passionsfiguren aus Schönbrunn.

Martialisches Spektakel: Passionsfiguren aus Schönbrunn.

(Foto: Toni Heigl)

Was als jugendpädagogische Innovation daherkam, war im Kern uralt, denn schon Jahrhunderte zuvor hatte sich die Kirche theatralisch-dramaturgischer Kniffe befleißigt, um das Volk religiös und sittlich zu unterweisen. Man kann das heute noch an vielen Kirchen im Dachauer Land studieren, allen voran an der Hofmarkkirche in Schönbrunn, deren Emporen den Charakter von Theaterlogen haben. In der Barockzeit waren ihre Altarräume wie Bühnen konzipiert. 1677 entstand in Altomünster das Birgitten-Schauspiel "Schauplatz der Tugend", das in 5400 Versen das Leben der Ordensgründerin Birgitta von Schweden und ihrer Tochter Katharina als erste Äbtissin des Ordens in den Mittelpunkt stellt. Religiöse Inszenierungen wurden genutzt, dem einfachen Volk das Leben, insbesondere das Leiden und Sterben Christi bildhaft und nicht selten mit drastischem Realismus vor Augen zu führen.

Ein besonderes Exponat aus der Zeit des 17. bis 18. Jahrhunderts ist im Bezirksmuseum zu sehen: ein Passionskruzifix, das früher gegenüber in der Stadtpfarrkirche Sankt Jakob hing. Der Christus hat echtes Menschenhaar und eine Dornenkrone. Während der Lesung des Evangeliums wurde in der Messe die rückseitige Mechanik am Kruzifix in Bewegung gesetzt zu den berühmten letzten Worten: "Es ist vollbracht!" Mit Hilfe eines Hebels fiel die Kinnlade herunter und schlossen sich die Augen der gekreuzigten Figur. Man kann sich die emotionale Erschütterung der Gläubigen lebhaft vorstellen. Leider nur als Fotografie zu sehen ist sind zwei Gruppen lebensgroßer Figuren aus dem frühen 17. Jahrhundert, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten in der Hofmarkkirche Schönbrunn stand. Auch diese Holzfiguren haben Glasaugen, Echthaar und tragen Stoffgewänder. Die Szenen zeigen die Geißelung und Verspottung Christi vor der Kreuzigung. Die beiden Passionsfigurengruppen sind für Nauderer "ein kulturgeschichtliches Phänomen ersten Ranges" und ein herausragendes Zeugnis der Barockzeit im Dachauer Land. Leider sind die Figuren heute in einem erbarmungswürdigen Zustand und müssten dringend restauriert werden. Das kostet viel Geld, das derzeit aber keiner bereit ist zu bezahlen.

Jugendarbeit in den Zwanzigerjahren: Hefte wie "Die Jungmänner-Bühne" lieferten erbauliche Stücke.

Hefte wie "Die Jungmänner-Bühne" lieferten erbauliche Stücke.

(Foto: Toni Heigl)

Dass die Tradition geistlicher Spiele abbrach, ist dem staatlichen Passionsspielverbot von 1770 und der Säkularisation ab 1803 zuzuschreiben. Die theatralische religiöse Inszenierung war nicht länger statthaft, was nicht heißt, dass das neue, säkulare Laienschauspiel nun völlige Narrenfreiheit genossen hätte: Alles, was öffentlich zur Aufführung gebracht wurde, musste im Einklang mit Moral und Sitten stehen und wurde andernfalls verboten.

Weitestgehend vorbei mit jeder künstlerischen Freiheit war es mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Theaterspielgruppen sowohl kirchlicher wie freier Träger wurden kategorisch verboten, sofern sie sich nicht in den ideologischen Dienst der NS-Organisation "Kraft durch Freude" stellten. Dieses Schicksal ereilte auch die erst 1932 gegründete Ludwig-Thoma-Gemeinde, die zur NS-Kulturgemeinde umgewidmet wurde. Erst 1951 wurde sie neu gegründet. Noch heute pflegt sie das Bühnenwerk des Schriftstellers Ludwig Thoma - und hält damit auch die Erinnerung an die großteils schon längst verloren gegangene bäuerliche Kultur im Dachauer Land lebendig.

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