Jubiläumskonzert der Liedertafel Dachau:Eine Totenklage zum Wiegenfest

Jubiläumskonzert der Liedertafel Dachau: An den Sängern der Liedertafel und den Musikern im festlichen Renaissance-Saal des Dachauer Schlosses gibt es wenig auszusetzen. Tapfer absolvieren sie ihre Stücke. Fragt sich nur, warum Dirigent Tobias Hermanutz ihnen und dem Publikum ein derart verqueres Programm zumutet.

An den Sängern der Liedertafel und den Musikern im festlichen Renaissance-Saal des Dachauer Schlosses gibt es wenig auszusetzen. Tapfer absolvieren sie ihre Stücke. Fragt sich nur, warum Dirigent Tobias Hermanutz ihnen und dem Publikum ein derart verqueres Programm zumutet.

(Foto: Toni Heigl)

Bei der Auswahl der Stücke für das Jubiläumskonzert der Liedertafel zeigt Tobias Hermanutz keine glückliche Hand. Nicht nur bringt er mit der "Cantata" eines der sprödesten Werke Strawinskys zur Aufführung, er fügt auch noch eine Mozart-Serenade ein, die gar nicht ins Programm passt. Viele Zuhörer gehen vorzeitig

Von Adolf Karl Gottwald, Dachau

Die Liedertafel Dachau wagt sich an Strawinsky und das in ihrem Konzert zum 140-jährigen Bestehen! Dazu gehört nicht nur ein Dirigent, der das kann, der sogar mit einer Arbeit über Chormusik der Avantgarde promoviert hat, dazu gehört vor allem eine tüchtige Portion Mut. Gewiss, der Anfang als Männergesangverein liegt 140 Jahre zurück, und das "Liedertafeln" hat Peter Frank, der die inzwischen zum gemischten Chor mutierte Liedertafel 27 Jahre lang dirigiert hat, gründlich ausgetrieben. Man sang statt "Im Krug zum Grünen Kranze" Bach, Händel, Haydn, Mendelssohn, Brahms und sogar ein kleines Stück darüber hinaus, aber an Musik des 20. Jahrhunderts, an Hindemith oder Strawinsky, war nicht zu denken. Diese Musik will jetzt Tobias Hermanutz mehr und mehr ins Programm bringen.

Wenn man Musik von Igor Strawinsky anspricht, muss man erst einmal sagen, welche Musik man damit meint; denn Strawinsky hat im Laufe seines Lebens sein Komponieren so oft und so gründlich geändert, wie kaum ein zweiter Komponist. Da gibt es Stücke in einem Kompositionsstil der geradezu populär geworden ist - man denke an seine Ballettmusik - , dann der klassizistische Strawinsky mit seinen Symphonien, auch der Psalmensymphonie, dann der späte Strawinsky mit seiner betont spröden Musiksprache. Die Liedertafel Dachau sang die Psalmensymphonie, aber als erstes Werk hat Tobias Hermanutz Strawinskys 1951/52 für Sopran, Tenor, Frauenchor und kleines Instrumentalensemble geschriebene "Cantata" aufs Programm gesetzt, und das ist eines der am wenigsten zugänglichen, sprödesten Werke Strawinskys. In diesem Werk hat Strawinsky sein Bestreben, in seiner Musik das Innige, Ich-Bezogene, Individuelle abzustreifen, auf die Spitze getrieben. Seine Musik ist in dieser Phase starr und will starr sein. Deshalb benutzte er das "kristallklare, gemeißelte, harte Latein". In seiner "Cantata" ging er noch einen Schritt weiter und wählte einen schwer verständlichen Text in einem etwas obskuren Englisch des 15. und 16. Jahrhunderts.

Im Mittelpunkt steht ein "Ricercar" (eine der ältesten Formen der Instrumentalmusik und nicht des gesungenen Worts), in welchem Christus selbst seine Geschichte von der Geburt und der Krippe zwischen Ochs und Esel bis zu Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt erzählt und sie dabei als Tanz darstellt: "Morgen wird mein Tanztag sein, ich wollte, dass es meiner wahren Liebe gelänge, die Geschichte meines Spiels zu sehen." Bernhard Schneider sang die im Sinne des Ricercars eher instrumental geformten, betont ausdruckslosen Linien tadellos - eine großartige musikalische Leistung. Im begleitenden Ensemble von nur zwei Flöten, drei Oboen und Violoncello dominieren die Oboen mit ihrem klaren, fast kalten Klang. Die Musik nimmt auf den Text keinen emotionalen Bezug, sie verhält sich bei der Kreuzigung so neutral und objektiv starr wie bei der Szene an der Krippe.

Strawinsky bezeichnete diesen Text als "halb-geistlich". Die weltlichen Gesänge sind der Sopranstimme anvertraut. Judith Spiesser sang genauso gut wie Bernhard Schneider. Zum Schluss vereinigen sich beide Stimmen in einem Liebesduett. Darauf singt der Chor, der diese Cantata mit einer Totenklage eingeleitet hat, seine vierte Totenklage in der starren, dogmatischen Art, wie man sie am ehesten noch aus der Musik des Mittelalters kennt. Der Frauenchor der Liedertafel Dachau meisterte diese schwierige, weil musikalisch ungewöhnliche Aufgabe in sehr präziser Intonation und Ausführung. Als Zuhörer meint man, der Chor hätte viermal das gleiche gesungen, doch die kleinen, meist textbedingten Verschiebungen und der gewollte Verzicht auf Ausdruck machen die Ausführung schwer. Was Tobias Hermanutz dazu bewogen hat, dieses sprödeste Werk geistlicher Musik von Strawinsky aufs Programm zu setzen und sowohl Sängern wie Publikum zuzumuten, blieb die Frage.

Mit der Psalmensymphonie von 1930 hat Strawinsky den Weg betreten, der schließlich bis zu seiner starren Messe von 1945 und der "Cantata" von 1951/52 führte, doch die Psalmensymphonie ist noch ein mächtiges Werk voller Saft und Kraft: großer Chor, großes mit Trompeten und Pauken und schwerstem Blech bestücktes Orchester, eine Wucht des Klanges, für die der Renaissance-Saal des Dachauer Schlosses eigentlich zu klein war. Eine französische Beschreibung meint, in ihre spüre man "ein Wehen aus der Tiefe der Zeiten, rau und heftig wie der Sturmwind, in dem die furchtbaren Blitze Jehovas aufzucken, in dem alle Hoffnung und Angst der Welt zusammengedrängt sind".

Das war freilich in erster Linie die Sache des Orchesters, bei der sich die jungen Nachwuchskünstler im Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks bewähren konnten. Der gemischte Chor der Liedertafel Dachau hielt der klanglichen Schärfe und Aggression des Orchesters mutig stand und sang tapfer und sauber, auch klangmächtig die von Strawinsky zu diesem mächtigen musikalischen Bau vereinigten Psalmen Nr. 39, Nr. 49 und vor allem das ständig wiederholte, äußerst beeindruckende "Laudate Dominum" des 150. Psalms mit dem überaus schön herausleuchtenden "Alleluja".

Zwischen den beiden, in ihrer Art unerhörten Werken geistlicher Musik von Strawinsky dirigierte Hermanutz die bekannte Serenade für Bläseroktett Es-Dur KV 375 von Mozart. Für diese Programmzusammenstellung brachte das Publikum kein Verständnis auf, sie wurde in der Pause allgemein missbilligt. Das Dachauer Publikum hielt es mehr mit dem (hier wohl missverstandenen) Alten Testament. Dort heißt es: Und Gott sprach: "Es werde Licht!" - und es ward Licht. (Man denkt an das strahlende Licht in C-Dur in Joseph Haydns "Schöpfung".) Im Dachauer Schloss verstand man: Und Gott sprach: Es werde licht!" und es ward licht (in den Stuhlreihen). Tobias Hermanutz hat nicht den Chor der Liedertafel Dachau, aber das Publikum dieser Liedertafel überfordert.

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