Massiver Vorwurf:Joe Biden übt scharfe Kritik an KZ-Gedenkstätte Dachau

Massiver Vorwurf: Das Eingangstor zum ehemaligen Konzentrationslager Dachau: Mehr als 41500 Häftlinge wurden hier ermordet.

Das Eingangstor zum ehemaligen Konzentrationslager Dachau: Mehr als 41500 Häftlinge wurden hier ermordet.

(Foto: Toni Heigl)

Der künftige US-Präsident wirft der Einrichtung in seinem autobiografischen Buch Geschichtsklitterung vor. An der Gedenkstätte ist man irritiert.

Von Helmut Zeller, Dachau

Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU), Direktor der bayerischen Gedenkstättenstiftung, ist am Freitagnachmittag gerade auf dem Weg zu seinem Heimatort Schwabach bei Nürnberg, als ihn die erstaunliche Nachricht ereilt. Joe Biden, der demnächst als 46. Präsident der USA ins Weiße Haus einzieht, hat der KZ-Gedenkstätte Dachau Geschichtsklitterung vorgeworfen. Ein massiver Vorwurf, der die Mitarbeiter der bedeutendsten KZ-Gedenkstätte mit jährlich knapp einer Million Besucher aus dem In- und Ausland ziemlich erstaunt hat. "Ich werde Joe Biden gleich, wenn ich zuhause bin, schreiben, ihm zu seiner Wahl gratulieren und ihn nach Dachau einladen", sagt Stiftungsdirektor Freller. Den Vorwurf weist der CSU-Politiker indes entschieden zurück. Da muss Joe Biden einen falschen Eindruck bekommen haben, meint auch die Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann, die von der Kritik Joe Bidens "sehr überrascht" worden ist.

Es war im Februar 2015. Der damalige US-Vizepräsident Biden besuchte mit seiner 15-jährigen Enkelin Finnegan die Gedenkstätte in Dachau, "ganz privat", und mit einem Konvoi von Fahrzeugen und einer großer Zahl an Bodyguards im Schlepptau. Joe Biden traf den inzwischen verstorbenen Auschwitz-Überlebenden und Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees, Max Mannheimer. Gemeinsam mit der Leiterin und Historikerin Gabriele Hammermann begleitete er den Gast zu den Barackennachbauten, dem historischen Krematoriumsgebäude und der Gaskammer. Von Mannheimer war der Politiker sehr beeindruckt, weniger aber offenbar von der Gedenkstätte selbst. 2017 veröffentlichte Joe Biden ein autobiografisches Buch, in dem er der Gedenkstätte vorwarf, den Gedenkort umgestaltet zu haben, "um es für die Besucher weniger bedrückend zu machen". Der Band "Versprich es mir", damals in den USA ein Bestseller, liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Die bislang nicht bemerkte Passage grub ein Journalist des Spiegel aus.

Massiver Vorwurf: Der damalige US-Vizepräsident Joe Biden bei seinem Besuch 2015 und der Zeitzeuge Max Mannheimer.

Der damalige US-Vizepräsident Joe Biden bei seinem Besuch 2015 und der Zeitzeuge Max Mannheimer.

(Foto: Toni Heigl)

Sein Urteil stützt Joe Biden auf mehrere Besuche der Gedenkstätte Dachau, in den Achtziger Jahren mit Sohn Beau, später mit Sohn Hunter und Tochter Ashley. Damals habe er Namen gesehen, die Häftlinge in die hölzernen Bettgestelle in den Baracken geritzt hätten. 2015 hingegen kamen ihm die Betten "sauber", die Gestelle "frisch lackiert" vor. Die "grausamen Einzelheiten" seien über die Jahre "abgemildert" worden, schrieb Biden. Nur, darin täuscht sich der künftige US-Präsident gründlich: Die originalen Häftlingsbaracken sind in den Jahren 1963 und 1964 abgerissen worden; bei den beiden Baracken handelt es sich um Nachbauten, die um 1965 errichtet worden sind - Namen von Häftlingen waren in den Bettgestellen nie eingeritzt. Gedenkstättenleiterin Hammermann erklärt sich das vernichtende Urteil dadurch, dass Joe Biden in früherer Zeit das Gedenkstättengelände über den südöstlichen Zugang betreten hat. 2015 nahm er jedoch den Weg vom neuen Besucherzentrum zum historischen Jourhaus, der keinen Eindruck vom Lager-Terror vermittelt. So weit, sagt die Historikerin, könne sie Bidens Einschätzung sogar folgen. In der geplanten Neugestaltung wolle man die historischen Spuren im Eingangsbereich viel sichtbarer machen. Deshalb wohl sei der Eindruck Bidens entstanden, man habe das ehemalige Lager aufhübschen wollen, was natürlich nicht der Fall sei. Viele Besucher in Dachau wollten ein KZ sehen. Aber es ist nun mal eine Gedenkstätte am authentischen Ort.

Auch Freller will einer fachlichen Auseinandersetzung nicht ausweichen. Seit den Achtzigern und Neunzigern habe sich die Gedenkkultur gewandelt. Man habe die historischen Aufnahmen von Leichenbergen zurückgefahren, weil man zur Überzeugung gelangt sei, dass dies die Würde der Opfer verletze und etwa Kinder unter den Besuchern Schaden zufügen könne. Aber man könne darüber diskutieren, in wieweit das Grauen des Naziterrors abgebildet werde. Letztlich geht es um die zentrale Frage: Wie könne man die Wirklichkeit in der Zeit des Naziregimes adäquat abbilden, sagt die Historikerin Hammermann.

Auch die Auschwitz-Überlebende und Schriftstellerin Ruth Klüger warf einen kritischen Blick auf die Gedenkstätten. Nach ihrem Dachau-Besuch schrieb sie: "Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Fantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor über vierzig Jahren gespielt wurde." Zurzeit wird der Dokumentarfilm in der Ausstellung, der unmittelbar nach der Befreiung von den Alliierten gedreht worden war, durch einen neuen ersetzt - die Bilder der Leichenberge sind dann nicht mehr vorhanden. Auch Überlebende wie der Israeli Abba Naor haben da ihre Zweifel.

Karl Freller findet die Kritik Bidens gar nicht so schlimm. Wenn schon ein US-Präsident sich mit Dachau beschäftigt, wie Freller sagt, dann beweist das doch die weltweite Bedeutung der KZ-Gedenkstätte und das zeigt deutlich, dass staatliche Finanzmittel dafür gut eingesetzt sind - auch in der Corona-Krise, in der er Einsparungen befürchten muss.

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