Jazz in allen Gassen:Vom Glück im Getümmel

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Auf dem Pfarrplatz wird gepfiffen, gerasselt, gesunden - und getanzt. In der gesamten Altstadt feiern bei "Jazz in allen Gassen" rund 20.000 Menschen friedlich und ausgelassen miteinander. (Foto: Toni Heigl)

Auch ohne hörbaren Jazz feiern bei "Jazz in allen Gassen" rund 10 000 Menschen einen ausgelassenen Auftakt des Dachauer Musiksommers. Bei Boogie und Blues genießen sie Bratwurst und Bavesen - und eine leichte, knöchelfreie Stimmung.

Von Martin Wollenhaupt, Dachau

Es hieß, es solle ein Flanieren werden. Und es wurde ein Getümmel. Was für ein Glück. "Jazz in allen Gassen", die Auftaktveranstaltung des "Dachauer Musiksommers" ist seit 2006 das größte Event der Stadt. Dass Jazz nicht nur etwas für Kenner, Liebhaber des Komplexen, Träger kreisrunder Professorenbrillen ist, dafür gibt es vielleicht keinen besseren Beweis als den vergangenen Freitagabend in der Dachauer Altstadt. Rund 20.000 lauschende Ohren, kleine und große, dazwischen 10.000 Köpfe, bebrillt und unbebrillt, bereit, sich geeint hinter einer Idee versammeln - der Musik.

Gut, zugegeben: Jazz ließ sich nicht auffinden. Man hatte entschieden, dessen Stilgrenzen hinter sich zu lassen und der Musik durch einprägsame Rhythmen ein Sommerkleidchen anzulegen. Swing und Folk, Jive und Reggae, Boogie, Blues und - Zunge startklar zum Rollen - Rock'n'Roll. Vielleicht hätte man wenigstens eine Jazz-Band engagieren können. Vielleicht erlischt der Geist einer Musik der Befreiung aber auch dort, wo man sie eng absteckt.

Überall schöne Menschen. Überall Fressbuden.

Halb acht. 23 Grad, wolkenloser Himmel, ein Sommermärchen. Umhüllt von einer Idee amerikanischen Lebensgefühls - wie ein guter Remix, von Nostalgie getragen, von Vorfreude getrieben - branden die ersten Menschengrüppchen gegen den Zaun der Einlasskontrollen. Ein bisschen unwirklich wirken die Häuserfassaden in der Abendsonne, farbintensiv, wie eine Filmkulisse. Überall schöne Menschen. Überall Fressbuden. Überall Gerüche.

Bratwurst, Bavesen, Pulled Pork, Hot Dogs, Eis und Waffeln, Döner, Pasta, Curry. Die Bio-Bäckerei Gürtner schmiert Butterbrote. Lange Schlangen an den Ständen. Für viele Läden der umsatzstärkste Tag im Jahr. Ein einheitliches Becher-Pfandsystem gibt es nicht. Egal. Viel wichtiger: Wo haben die Leute nur diese Süßkartoffelpommes her?

Die Biergartengesellschaft gibt auf und kaut zum Groove

It must schwing! war im vergangenen Jahrhundert die einzige, aber immer wiederholte Anweisung des Berliner Blue-Note-Gründers Alfred Lion an die Musiker, die für sein Label eine Platte aufnahmen. Jahrzehnte später scheint der Hall seines Anliegens am Dachauer Rathausplatz angekommen zu sein. Die Münchener Band Next One groovt sich ein. Mit Blues und Bluesrock stimmen die vier bärtigen Jungs den Abend an. Leichte, knöchelfreie Stimmung.

Plötzlich winkt jemand. Ein Kreischen. Du auch hier? Umarmung, Lachen, Geplauder. Man kennt sich. Die Gruppengrößen schwellen an. Komm, wir schauen mal zu den... wie heißen sie noch mal? Na, zur Schranne halt.

Boogie Connection heißen sie. Ihre Musik: wirkungsorientiert wie ein Chuck-Berry-Song. Ein Zerren in allen Körperregionen. Rhythmus und Körper verschmelzen. Spielte man hier "Aushalten - nicht wippen" - alle verlören. Die gemütliche Biergartengesellschaft gibt auf und kaut zum Groove.

Singen, Pfeifen, Rasseln am Pfarrplatz

Ein paar Meter weiter am Kraisy-Brunnen. Die Ersten trauen sich was. Mit Rock'n'Roll dirigiert das Trio Atomic Rocketeers die Paartänzer auf und ab. Ein Mann in schwarzem Bowlinghemd und schwarz-weißen Bowlingschuhen spielt den Torero und wirbelt eine Frau in rotem Top durch die Gegend.

Letzte Sonnenstrahlen. Die Nacht legt sich über das Städtchen. Schwalben jagen durch die Gassen. Über den Pfarrplatz weht eine Mischung aus Folk, Schlager und Country. Sag mir quando ich dich wiedersehen kann. Margreth Außerlechner, die nicht nur Karlsfelder Mittelschullehrerin ist, sondern auch mit ihrem Programm "Zwischen Umtata und Gloria" auf Bühnen steht, singt und pfeift und rasselt zu den Instrumenten von Waldenfels & McCaslin. Wie viele Instrumente haben die eigentlich dabei? Titus Waldenfels zählt durch. Gitarre, Geige, Banjo, Steel Guitar... "Neun. Plus der Kleinkram von der Margreth." Und wie kommt man zu einem solchen Mix? "Echt einfach Bock. Da gibt's kein weiteres Kriterium."

Einen Häuserblock weiter. Eine Partei verwechselt "Festival" mit "Wahlkampf". Der Reigen ihrer weiß-blauen Fähnchen bleibt ein stiller. Bei ihnen spielt die Musik nicht.

Am Rathausplatz spielen Next One, später übernehmen Rootz Radicals mit chilligem Reggae die Bühne. (Foto: Toni Heigl)
Am Schermhof, vor den Einlasskontrollen, berühren die Birdies das Publikum. Kathrin Birkeneder und Constanze Miller, die zugleich Klavier spielt, bringen Coversongs, in die sich Wehmut, Liebe und Melancholie mischen. (Foto: Toni Heigl)
Margreth Außerlechner, die nicht nur Karlsfelder Mittelschullehrerin ist, sondern auch mit ihrem Programm "Zwischen Umtata und Gloria" auf Bühnen steht, singt und pfeift und rasselt zu den Instrumenten von Waldenfels & McCaslin. (Foto: Toni Heigl)
Vor dem Kraisy-Brunnen dirigieren die Atomic Rocketeers die Paartänzer mit Rock'n'Roll auf und ab. (Foto: Toni Heigl)
Laut Polizei und Sanitätern verlief das ausgelassene Stadtfest friedlich - nicht mal ein Blasenpflaster wurde gebraucht. (Foto: Toni Heigl)

Dafür am Rathausplatz. Jamaikanische Bob-Marley-Strand-Stimmung. Rootz Radicals haben übernommen. Chilliger Reggae, Dreadlocks, Sonnenbrille. Zu denen, die sich was trauen, haben sich jetzt alle anderen gesellt zum Tanz in allen Gassen. Die wichtigste Liedzeile: Lalalalalai! Jugendliche mit Silberkettchen und Sneakers neben 40-jährigen Frauen mit Strickjacke und Ballerinas - alle fühlen es, s hake your body, hands up! Hin. Und her. Und hin. Und her... This is Chris on the guitar - make some noise! Geiles E-Gitarrensolo. You must be free! Heute zweifelt daran niemand. Lichtshow, Nebel, Kräuterduft weht durch die Gassen.

Das Dachauer Rathaus, das schon andere Zeiten erlebt hat, blickt zufrieden auf seinen Vorplatz. Die Altstadt schwingt. Und Tobias Schneider, Hauptverzapfer der Abends, schwingt mit. Barfüßig in Sandalen, T-Shirt mit Planetenbild. Er ist innerlich gespalten. Nicht nur steht er auf gute Musik und scheint seinem Wesen nach unprätentiös zu sein. Sondern ist er auch Dachauer Kulturamtsleiter, im Amt seit 19 Jahren, heute in Verantwortung. Ein Dilemma.

"Früher wurde mal ein Blasenpflaster gebraucht, heute nicht."

Herr Schneider, wie viel Amtswürde steckt heute in ihnen und wie viel Leidenschaft? "Es ist schön, die Bands zu hören." Klare Entscheidung. Den Ton angeben - das macht er, ganz der Erfahrene, nebenbei: ein Headset im Ohr - "Kontakt mit der Security", wie er sagt, "falls was passiert". Und sonst so? - "Ziemlich entspannt.". Wie lief's im Vorfeld? - "Elegant." Und heute? - "Total entspannt. Früher wurde mal ein Blasenpflaster gebraucht, heute nicht." Wunderbar.

Bestätigung vom Rotem Kreuz: Elf ehrenamtliche Sanitäter, keine Einsätze. Und bei der Polizeiinspektion Dachau? Ein paar Ruhestörungen. Ganz normal, versichert man. Alles friedlich.

Die Birdies berühren wie ein von Carlos Kleiber dirigierter Tristan

Der Abend neigt sich dem Ende zu. Um Mitternacht macht alles dicht. Zeit, nachdenklich zu werden. Am besten in der Romantikecke des Festivals, außerhalb der Einlasskontrollen, bei den Birdies. Rotes Licht. Roter Mülleimer. Roter Wein. Nach einer Bandpause setzen die Stimmen der Sängerinnen Kathrin Birkeneder und Constanze Miller, die zugleich Klavier spielt, ein. Zwei betagte Damen im Publikum gehen auf Sichtweite. Glücklich schaukelnd lassen die Omas den Abend ausklingen. Time after time erklingt. Und obwohl es seichte Coversongs sind, berühren sie wie ein von Carlos Kleiber dirigierter Tristan. Eine Musik für Menschen im Werden in einer Welt im Werden. Wehmut, Liebe und Melancholie mischen sich, oh wie schön, denkt man, und nimmt noch einen Schluck, um sich dem Thema anzunähern. Und dann wird man ganz furchtbar pathetisch, weil plötzlich alles Gegenwart ist und es grundlegend wird. Irgendwann, stellt man sich dann vor, wenn die Lichter erloschen sind und die Stimmen verklungen, irgendwann wird es Festivals in Amerika geben - mit Dachauer Lebensgefühl. Eine Kopie der Kopie. Aber das macht nichts. Solange es schwingt, macht das nichts.

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