Süddeutsche Zeitung

Interview mit Abba Naor:"Wir werden unsere Meinung laut sagen"

Lesezeit: 5 min

Das Internationale Dachau-Komitee hat einen neuen Vizepräsidenten gewählt: Der Holocaust-Überlebende Abba Naor plädiert dafür, dass der Verband künftig seine Stimme kraftvoll gegen den Rechtsruck in Europa erhebt

Interview von Helmut Zeller

SZ: Herr Naor, es war ein weiter Weg vom Ghetto Kaunas zum Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees (CID), wie fühlen Sie sich?

Abba Naor: Wie ein Vizepräsident (lacht laut). Nein, manchmal schaue ich in den Spiegel und frage, hey bist Du das? Ich sehe ja trotz meiner bald 89 Jahre noch den kleinen Jungen in meinem Spiegelbild; damals in den furchtbar kalten Wintern im Ghetto, ein 13-Jähriger umgeben von Hunger, Verzweiflung und Tod. Kaunas, Stutthof und Dachau. Einmal Dachau, immer Dachau. Davon kommt man eben nicht los. Aber es ist doch ein Fortschritt: Das Leben ist im Dachau-Komitee viel komfortabler als in einer verlausten Dachauer Baracke (lacht wieder). Sie wissen es doch selbst: Ich freue mich auf die Arbeit als Vizepräsident und möchte helfen, das CID in die Zukunft zu führen.

Sie treten nun die Nachfolge von Max Mannheimer an.

Ja, aber da muss ich gleich sagen: Max Mannheimer, mein Vorbild als Zeitzeuge, war nicht nur Vizepräsident, er war eine Institution. Ich will und kann mich mit ihm nicht messen. Seinen Platz kann niemand ausfüllen. Aber sein Vermächtnis ist für uns alle Überlebenden die Richtschnur unseres Handelns.

Wie kam es zu Ihrer Wahl?

Nach den Statuten muss entweder der Präsident oder der Vize ein ehemaliger Häftling sein. Jean-Michel Thomas, der Präsident, ist ein Vertreter der zweiten Generation. Also fragte man mich, und ich sagte Ja. Ich bin noch der jüngste der Überlebenden, auch wenn ich im nächsten Jahr bereits 90 Jahre alt werde.

Ist es wichtig, dass wieder ein Vertreter der jüdischen Überlebenden dieses Amt übernimmt?

Ich glaube, ich bin mehr als KZ-Überlebender gewählt worden denn als Holocaust-Überlebender. Das CID braucht einen Vize, gerade einen, der in Dachau ist. Ich habe gute Beziehungen zur KZ-Gedenkstätte und zur Stiftung Bayerische Gedenkstätten, in deren Stiftungsrat ich sitze. Natürlich will ich der jüdischen Stimme, also der Stimme der Überlebenden der Dachauer Außenlager bei Kaufering/Landsberg Gehör verschaffen. Unsere Vereinigung in Israel musste lange darum kämpfen, bis ich vor zehn Jahren einen Sitz in der CID-Exekutive bekam.

Was wollen Sie bewirken?

Ich muss erst noch lernen, dann kann ich Vorschläge bringen. Ich war nie so involviert in das CID, weiß natürlich, was sich tut, aber ich muss noch ein paar Monate älter werden.

Aber Sie haben doch Vorstellungen?

Ich will helfen, die Zusammenarbeit des CID mit der Staatsregierung, der Stiftung und der Gedenkstätte auf eine stabile und friedliche Basis zu stellen. Unter dem früheren CID-Präsidenten gab es viel Streit. Wir können nicht gegeneinander, wir müssen miteinander unser gemeinsames Ziel verfolgen: die Erinnerung zu bewahren.

Worum ging es bei den Streitereien?

Vordergründig um Geld, aber tatsächlich um Macht. Wir haben aber das Interesse, dass die Gedenkstätte funktioniert. Selbstverständlich gibt es Reibungen, jeder hat seine Meinung, aber das muss nicht zu Auseinandersetzungen führen, bei denen dann gleich ein Rechtsanwalt eingeschaltet wird. Heute sind alle Beteiligten zufrieden, früher wollte jeder jeden gegeneinander ausspielen.

Aber das Dachau-Komitee hat eine besondere Stellung?

Natürlich. Im Jahre 1966 hat das CID mit dem Freistaat Bayern eine bilaterale Konvention abgeschlossen. Dieser Vertrag wurde durch das Gesetz zur Gründung der Stiftung Bayerische Gedenkstätten bestätigt. Das CID kann unter anderem von einem Vetorecht bei der Bestellung des KZ-Gedenkstättenleiters Gebrauch machen.

Was also wird das CID künftig machen?

Mal sehen, wie die Zusammenarbeit im CID, vor allem mit der Gedenkstätte sich entwickelt. Ihr gilt unser Interesse noch mehr als der Stiftung, weil die Gedenkstätte das lebendige Zentrum der Erinnerungsarbeit ist. In personellen Fragen, in der täglichen Arbeit muss unsere Kooperation intensiver werden.

Was heißt intensiver?

Dass wir ein bisschen mehr Interesse zeigen an der täglichen Arbeit der Gedenkstätte.

Und mehr Einfluss nehmen?

Wenn das dazu gehört, dann werden wir nicht nein sagen.

Welche Bereiche betrifft das?

Den Vereinbarungen zufolge die Besetzung von Stellen, die Führungen in der Gedenkstätte, welche Leute das machen und wie viele damit beschäftigt sind. Wie kann man das Besucherinteresse bewahren, was muss man tun, dass sie nicht nur das Museum anschauen, sondern auch Wissen über die Geschichte vermittelt bekommen. Dachau ist neben Auschwitz eine der meistbesuchten KZ-Gedenkstätten. All diese Fragen beschäftigen das CID, und es hat ein Recht auf Mitsprache. Aber man kann Recht bekommen, auch wenn man nicht streitet.

Da werden Sie dann eine zentrale Rolle spielen, weil sie doch der Ansprechpartner des CID für Gedenkstättenleitung und Stiftung sind?

Das ist ein Teil meiner Aufgabe. Aber wir haben das im Komitee noch nicht zu Ende diskutiert. Wie gesagt, ich bin sehr viel in Dachau, habe gute Beziehungen zur Gedenkstätte und Stiftung. Ich bin offen für Vorschläge.

Betrifft die Intensivierung der Zusammenarbeit auch die Kirchen an der Gedenkstätte?

Da bin ich vorläufig überfragt.

Hauptansprechpartner für das CID bleibt die Gedenkstätte?

Das nehme ich an.

Hat ein Opferverband wie das CID im heutigem Europa überhaupt noch eine Zukunft?

Das Dachau-Komitee ist kein sterbender Verein, falls Sie das meinen. Die Vertreter der zweiten Generation sind ernsthafte Leute, die sich nicht engagieren, um Karriere zu machen. Sie sehen das CID als eine wichtige Organisation an und wollen alles tun und geben, dass es fortbesteht und weiter funktioniert.

Welche Konsequenzen hat der Rechtsruck in Europa für die Erinnerungsarbeit?

Das CID, überhaupt alle, die mit der Vergangenheitsarbeit beschäftigt sind, dürfen nicht schweigen. Wir müssen unsere Meinung sagen, sehr laut sagen, zur politischen Entwicklung in Europa. Das ist bis jetzt kaum geschehen. Wir müssen noch darüber sprechen, wie und wann wir uns einmischen.

Was ist Ihre Sorge?

Dass die kleinen Kriege nicht in einen großen Krieg münden. Wir müssen die Politiker warnen, gerade wir, auch zu den Völkern sprechen, sie sollen gegen den Hass aufstehen. Wenn Rechtspopulismus, Nationalismus und Antisemitismus zunehmen, wer weiß, was dann das Ende sein wird.

Was sagen Sie zu den Nazivorwürfen des Staatspräsidenten Erdoğan an die Adresse Deutschlands und der Niederlande?

Es wäre nicht falsch, wenn das CID in diesem Fall seine Stimme erheben würde, ihn aufforderte, dass er damit aufhören soll, die Naziverbrechen zu verharm- losen.

In osteuropäischen Ländern wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust umgeschrieben?

Dass etwa Litauen sich seiner eigenen Beteiligung am Holocaust nicht stellen will, ist kein jüdisches Problem, sondern das Problem der Litauer. Es ist auch ein Problem der EU. Wenn sie solche Länder rein nimmt, dann müsste sie ihnen auch klar machen, dass die Vergangenheit nicht verschwiegen werden darf. Wer die Vergangenheit verschweigt, kann keine Zukunft haben.

Aber die EU tut nichts.

Leider nicht. Vielleicht müssen wir, also Häftlingsverbände wie das CID, die EU aufwecken.

Ihnen geht es vor allem um die Jugend, die Zeitzeugengespräche mit ihr?

Seit 20 Jahren mache ich das und das bleibt meine zentrale Aufgabe, solange ich lebe. Ich erzähle ihnen meine Geschichte, um sie über die Gefahren aufzuklären, wenn demokratische Rechte abgebaut und der Hass auf andere geschürt wird.

Wie sind denn die Verbindungen des CID zur Stadt Dachau und zum Landkreis?

Ich bin darüber nicht ganz im Bilde, aber nicht schlechter jedenfalls als früher, normal eben. Es gibt keine Probleme. Den Landrat habe ich zufällig ein paar mal gesehen. Ich glaube nicht, dass er ein großes Interesse hat. Ich will ihm nicht Unrecht tun, aber wir hören nicht viel von ihm.

Wie geht es der israelischen Vereinigung der Kaufering-Überlebenden, die Sie anführen?

Die alte Generation stirbt aus, die neue zu organisieren ist nicht einfach, weil die Leute mit ihren Familien, Kindern und ihrer Arbeit vollauf beschäftigt sind.

Wie viele Mitglieder sind es?

Wenn Sie einen religiösen Juden fragen, wie viele Kinder er hat, sagt er: Man zählt nicht. Ich zähle nicht jeden Tag, aber wenn ich Unterstützung brauche, ist immer jemand da. Sie zeigen nach wie vor Interesse an der Erinnerungsarbeit in Dachau. Wir arbeiten daran, dass die zweite und dritte Generation sich als Zeugen der Zeitzeugen engagiert.

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Quelle:
SZ vom 20.03.2017
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