Süddeutsche Zeitung

Internetprominenz:Über Nacht berühmt

Lesezeit: 2 min

Das 43-Einwohner-Dorf Schmarnzell nimmt 30 Flüchtlinge auf - und verschafft dem Landrat weltweite Bekanntheit

Von Gregor Schiegl, Dachau

Selten hat Dachau so viel Beachtung in überregionalen und internationalen Medien erfahren wie in diesem Jahr. Zu verdanken hat es dies vor allem den Flüchtlingen, die die großen Fragen der Weltpolitik bis in die kleinsten Ortschaften des Landkreises getragen haben - und zu manch interessanten Konstellationen führten. Das gilt in besonderem Maße für den kleinen Ort Schmarnzell, von dem selbst die meisten Landkreisbürger nicht wussten, dass es ihn gibt. In das 43-Einwohner-Dorf kamen im Sommer 30 afrikanische Flüchtlinge. Mehr als 40 Prozent der Einwohner waren damit Asylbewerber, Rekord in Deutschland.

Durch eine Reportage in der SZ erlangte Schmarnzell erst lokale, sehr schnell aber auch bundesweite Berühmtheit. Auf sz.de wurde der Text mehr als 200 000 Mal gelesen. Für einige Stunden überstrahlte Schmarnzell Berlin, Brüssel und Washington. Andere Medien sprangen auf, Tageszeitungen, Fernsehsender, das Thema war ja auch zu schön. Ein Nest mit 15 Häusern, 90 Kühen und mittendrin 30 Afrikaner. Als hätte sich Marcus H. Rosenmüller das ausgedacht.

Schmarnzell machte auch den neuen Landrat Stefan Löwl (CSU) über Nacht zu einem gefragten Mann der Medien. In der Bewältigung der Flüchtlingskrise ist er der Macher, der Krisenmanager. Und er nutzt die Gunst der Stunde, sich auch entsprechend öffentlich darzustellen. Mehrmals war er im ZDF zu Gast bei der Moderatorin Maybrit Illner oder im Frühstücksfernsehen. Sogar die Washington Post besuchte den "jungen, zupackenden" Kommunalpolitiker, um mit ihm über die deutsche Flüchtlingspolitik zu sprechen und über Merkels "trotzigen Anstand".

Für eine amerikanische Leserschaft ist Löwl schon deshalb spannend, weil er aus Dachau ist. Die US-Armee befreite das Konzentrationslager Dachau vor 70 Jahren - was Dachau im Mai ein Riesenmedienaufgebot aus aller Welt bescherte. Zumal da Angela Merkel als erste Regierungschefin in der deutschen Geschichte überhaupt auf der Gedenkfeier in Dachau sprach. Wenn in Dachau, diesem weltweiten Inbegriff der Nazi-Barbarei, die erstaunliche deutsche Willkommenskultur zelebriert wird, ist das ein besonders reizvolles Detail. Dass der US-Reporter der Washington Post Stefan Löwl der Merkel-Partei CDU zugeschlagen hat, dürfte allerdings der in Übersee begrenzten Bekanntheit der CSU zuzuschreiben sein.

Für deren öffentliche Wahrnehmung sorgte der CSU-Kreisvorsitzende Bernhard Seidenath. Als Chef des Roten Kreuzes in Dachau erklärte er, dass die Dachauer Tafel keine Lebensmittel an Asylbewerber ausgeben wolle. Und als wollte er den Sturm der Entrüstung, der daraufhin durch die digitalen Kanäle fegte, noch weiter anheizen, schob er nach, die Asylbewerber müssten hierzulande erst mit Geld umgehen lernen. Die Empörung war groß, natürlich, aber manchen Bürgern gefiel es auch, dass Seidenath verbal auf den Tisch haute. Zugleich wurde damit offenkundig, wie weit der vermeintliche CDU-Mann Löwl und CSU-Chef Seidenath unterschiedliche politische Stile pflegen. Im Jahr 2015 war Löwl, medial betrachtet, der erfolgreichste Dachauer Lokalpolitiker. Seinen Bekanntheitsgrad konnte er enorm steigern und damit sein politisches Gewicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2801309
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.12.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.