Süddeutsche Zeitung

Indersdorf:Eine Papierblume für jedes Baby

35 Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen wurden von den Nationalsozialisten im letzten Kriegsjahr zu Tode gequält. Für die Einweihungsfeier "Weg des Erinnerns" haben die Schüler der Greta-Fischer-Schule sie symbolisch ins Gedächtnis gerufen.

Von Walter Gierlich, Markt Indersdorf

Es ist ein sonniger Spätsommertag und immer mehr Menschen versammeln sich am Indersdorfer Kindergarten Sankt Vinzenz. Da es Sonntag ist, sind in dessen Garten keine quicklebendigen Mädchen und Buben zu sehen. Dort, wo 1944/45 die Baracke stand, in der Säuglinge und Kleinkinder getrennt von ihren Müttern unter entsetzlichen Bedingungen leben mussten und 35 von ihnen einen qualvollen Tod fanden.

Die gut 200 Menschen, die jetzt am Sonntagvormittag an dieser Stelle eines entsetzlichen Verbrechens zusammenstehen, sind gekommen, um den "Weg des Erinnerns" einzuweihen, für den sich die Indersdorfer Historikerin Anna Andlauer seit langem unermüdlich eingesetzt hat. Fünf Stationen mit jeweils großen Informationstafeln über das Schicksal der Kinder aus der Baracke, aber auch derjenigen aus dem Kinderzentrum im Kloster nach dem Krieg, liegen am Weg, der vom Kindergarten Sankt Vinzenz über den Wasserturm zum Friedhof führt.

Jahrzehntelang wurde in der Marktgemeinde über die Kinderbaracke geschwiegen, war der Ort des Schreckens den meisten Indersdorfern gar nicht bekannt. Bürgermeister Franz Obesser beispielsweise sagte in seiner Begrüßungsansprache, dass ein zweijähriger Bub dort gestorben ist, dessen Mutter gerade einmal 500 Meter von dem Hof entfernt Zwangsarbeit leisten musste, auf dem er aufgewachsen ist. Ihm sei davon nichts bekannt gewesen, ebenso wenig wie seinem Vater. Tatsächlich war es der heute 75 Jahre alte Hans Holzhaider, damals Redakteur der Dachauer SZ, der 1986 dieses dunkle Kapitel der Indersdorfer Geschichte in zwei großen Artikeln offengelegt hat.

Wo heute der Kindergarten Sankt Vinzenz steht, errichteten die Nationalsozialisten im letzten Kriegsjahr eine Holzbaracke, in der Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht wurden. Hintergrund war ein Erlass des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, der besagte, wie künftig mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen umzugehen sei. Bekamen diese Frauen ein Kind, mussten sie dieses sofort in die Einrichtungen geben, die Himmler zynisch "Ausländerkinderpflegestätten" nannte. Diese gab es nicht nur in Indersdorf, sondern an vielen Orten in Deutschland.

Die Mütter mussten häufig auf Bauernhöfen schuften. Viele versuchten, ihre Neugeborenen zu sich zurückzuholen. Doch oft sahen sie ihre Kinder nie wieder. In Indersdorf starben mindestens 35 Kinder, die meisten wurden nur wenige Tage oder Wochen alt. Doch wie für das ganze Thema Zwangsarbeit sei auch hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten, heißt es im Grußwort von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, das Anton Wagatha, der Vorsitzende des Heimatvereins Indersdorf verliest. Für wichtig hält es Steinmeier, dass die Namen der auf so schreckliche Weise zu Tode gekommenen Kinder genannt werden, "denn es waren keine Namenlosen". Der Bundespräsident verband sein Grußwort mit einer eindringlichen Mahnung, dem Rassismus heute entschieden entgegenzutreten.

Anna Andlauer, die Initiatorin des Wegs, stellt in ihrer Ansprache historische Fakten dar. Etwa, dass Zwangsarbeiter weitgehend rechtlos waren oder dass deren Kinder, wenn sie aus Polen oder der Sowjetunion mit ins Deutsche Reich verschleppt worden seien, auf den Bauernhöfen mithelfen mussten und keine Schulen besuchen durften. Die Kinderbaracken, die es überall in Deutschland gegeben hatte und an die dennoch nur an wenigen Orten die Erinnerung wachgehalten wurde, bezeichnet sie als "Sterbelager".

50 000 bis 70 000 Kleinkinder seien dort ums Leben gekommen. "Die Mütter mussten gleich nach der Geburt wieder arbeiten." Die Babys habe man verhungern lassen: "Keine Vollmilch den Fremdvölkischen, die Milch gehört unseren Kindern", zitiert sie ein Plakat von damals. Andlauer betont, wie über das Verbrechen Zwangsarbeit und den Tod der Kinder nach dem Krieg jahrzehntelang geschwiegen und "nie ein Täter zur Rechenschaft gezogen wurde". Zum Schluss erklärt sie: "Wir können aber daran erinnern und der verstorbenen Kleinkinder gedenken."

Eindrucksvoll werden schließlich alle Namen der 35 toten Mädchen und Buben von Schülern der Dachauer Greta-Fischer-Schule verlesen, die trotz Ferien mit ihrer Lehrerin Antje Prigge an der Einweihung teilnehmen. Musikalisch umrahmt wird das von Corinna Barth vom Gymnasium Indersdorf mit Eric Claptons Song "Tears in Heaven" und dem Lied "A Million Dreams", ehe Diakon Raimund Richter den Weg segnet. Er habe zwar nur fünf Stationen, sagt der Geistliche, aber er sei "ein Kreuzweg, auf dem man das sinnlose Sterben von 35 Kindern nachvollziehen kann".

Angeführt vom Schönbrunner Bläserensemble machen sich die Teilnehmer entlang der Klostermauer auf den Weg zur zweiten Station, an der Bezirkstagspräsident Josef Mederer eine Ansprache hält. Einerseits sei Indersdorf ein Ort des Schreckens, durch den Tod der jüngsten und sinnlosesten Opfer, andererseits aber auch ein Ort der Hoffnung für die mehr als 1000 Kinder, die nach dem Krieg von Greta Fischer und ihren Mitarbeiterinnen im Kloster betreut worden seien und Sicherheit fanden. Die Erklärung der Menschenrechte, in der es heißt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren seien, sei auch für den Bezirk Oberbayern von grundlegender Bedeutung. Deshalb befasse man sich intensiv mit dem Thema Euthanasie in den psychiatrischen Anstalten des Bezirks. "Erinnerungsarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", stellt Mederer fest und rief die Zuhörer auf, "Spaltung, Hass und Diskriminierung entgegenzuwirken".

"Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft meistern", sagt Karl Freller, Landtagsvizepräsident und Direktor der Stiftung bayerischer Gedenkstätten, an der dritten Station. Die Schicksale, die die Kinder in Indersdorf erlitten haben, seien "in ihrer Grausamkeit kaum zu übertreffen, bestialischer können Menschen kaum handeln". Freller zeigt erheblichen Pessimismus: Die Verbrechen der Nationalsozialisten wirkten heute für uns unvorstellbar, aber das Thema könne noch längst nicht Vergangenheit sein, meint er.

Auch Landrat Stefan Löwl will an der vierten Station "nicht ausschließen, dass so etwas wieder passiert". Daher appelliert er an die Besucher, für die Demokratie einzutreten und "zusammenzustehen gegen Rassismus und Ausgrenzung". 11 600 Zwangsarbeiter habe es 1944 allein in Südbayern gegeben, teilt der Landrat mit, darunter die Mutter der Geschwister Karpuk, damals zehn und sechs Jahre alt.

35 Papierblumen für die ermordeten Säuglinge

Sie starb in Bayern, ihre beiden Kinder kamen nach dem Krieg ins Kloster Indersdorf, ehe sie nach Polen zurückkehren konnten. Die damals zehnjährige Zofia nimmt an diesem Sonntag an der Feierlichkeit teil. Sie erklärt in einer kurzen Rede, dass sie als Kind in Polen immer davon geträumt habe, "wieder hierher zu kommen". Dank Anna Andlauer hat sich ihr Traum erfüllt.

"Die Erinnerung in die nächste Generation zu tragen, ist unsere Aufgabe", sagt Staatskanzleichef Florian Herrmann an der letzten Station. "Wir alle spüren, dass hier Monströses geschehen ist und zwar nicht in der Antike oder im Mittelalter, sondern in unserer Zeit." Marcin Krol vom polnischen Generalkonsulat in München erinnert an die mehr als zwei Millionen Zwangsarbeiter, die aus seinem Land im "Dritten Reich" zu Sklavenarbeit in Rüstungsindustrie und Landwirtschaft gezwungen wurden. Der ukrainische Generalkonsul Yuriy Yarmilko nennt Beispiele von Zwangsarbeitern aus seinem Land während des Zweiten Weltkriegs. Bei der Gelegenheit erinnert er auch daran, dass in der Ostukraine gerade wieder Kriegszustand herrsche.

Einen bewegenden Schlusspunkt der Veranstaltung setzen Antje Prigge und ihre Schüler: Sie verteilen 35 Papierblumen, auf die die Kinder die Namen der ermordeten Säuglinge und deren Lebensdauer geschrieben haben. Die Blumen sollen von den Besuchern in Wasserschalen gelegt werden und sich dort entfalten. Tatsächlich kann man dann lesen: Wassili Pschika 228 Tage, Luise Wassiliew 144 Tage ...

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Quelle:
SZ vom 13.09.2021
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