Süddeutsche Zeitung

Im NS-Dokumentationszentrum:Das Grauen der Todesmärsche

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Das Comité International de Dachau vergibt erstmals seinen Studienpreis für herausragende Forschungen über die NS-Verfolgungspolitik. Eine internationale Jury zeichnet den Leipziger Historiker Martin Clemens Winter aus

Von Helmut Zeller, Dachau/München

Das Comité International de Dachau (CID) verleiht erstmals einen Studienpreis: Der Leipziger Historiker Martin Clemens Winter wird am Samstag, 17. März, im NS-Dokumentationszentrum in München für seine Dissertation "Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum: Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche" ausgezeichnet. Mit dem Preis werden herausragende Forschungen über die NS-Verfolgungspolitik und deren Aufarbeitung gewürdigt. Das Internationale Dachau-Komitee stiftete 2017 diesen Preis im Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, insbesondere im KZ Dachau. Den Vorsitz der international besetzten Jury hat die Historikerin Sybille Steinbacher, Leiterin des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, die auch das Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte leitet.

Der Preis, der in mehreren Stufen vergeben werden kann und alle zwei Jahre verliehen wird, ist mit insgesamt 6000 Euro dotiert. Die Laudatio bei der Preisverleihung in München hält Jury-Mitglied Jürgen Zarusky, Historiker am Institut für Zeitgeschichte München, der in Dachau lebt. Preisträger Martin Clemens Winter wird einige zentrale Ergebnisse seiner Studie vorstellen. Das Besondere an seiner Dissertation, die 2016 an der Universität Leipzig angenommen wurde: Sie greift die Geschichte der Todesmärsche unter dem bislang vernachlässigten Blickwinkel des ländlichen Raums auf. Angesichts der sich abzeichnenden militärischen Niederlage räumte die SS die Lager und trieb zigtausende KZ-Häftlinge quer durch das verbliebene Reichsgebiet, bevor diese von den alliierten Truppen befreit werden konnten. Insgesamt sind nach Schätzungen 25 bis 30 Prozent der Menschen getötet worden.

Die Routen der Todesmärsche führten über weite Strecken durch Dörfer und kleine Städte des ländlichen Raums. In Dachau zum Beispiel setzen sich am 26. April, drei Tage vor der Befreiung, mehr als zehntausend Häftlinge in Richtung Tirol in Bewegung. Eine Gruppe von 7000 völlig entkräfteter und kranker Menschen wird zu Fuß auf einen mehrtägigen Marsch nach Süden getrieben. Mehr als eintausend überlebten nicht. Sie verhungerten, erfroren oder wurden von den Wachmannschaften erschossen, wenn sie nicht mehr weiter konnten.

So wurde die Bevölkerung direkt mit dem Elend des Konzentrationslagersystems konfrontiert. Martin Clemens Winter hat die Reaktionen der Bevölkerung erforscht: Manche halfen den KZ-Häftlingen, andere denunzierten diejenigen, die flüchten wollten, und wieder andere waren sogar bereit zu morden. Amtsträger der NSDAP und Bürgermeister leisteten Unterstützung, Pfarrer zeichneten die Geschehnisse in Chroniken auf. Abba Naor, heute CID-Vizepräsident, war auf diesem Todesmarsch als 17-jähriger Junge dabei.

Martin Clemens Winter analysiert aber nicht nur das Geschehen während der Todesmärsche, er untersucht auch die strafrechtliche Ahndung der Verbrechen nach dem Krieg und welchen Niederschlag sie in der Erinnerungskultur gefunden haben. Die Nachkriegskapitel, so die Jury, gewinnen einen besonderen Reiz durch die deutsch-deutsche Perspektive, die interessante vergleichende Überlegungen ermöglicht. Die Jury zeigte sich "beeindruckt von den Ergebnissen der Arbeit, die sich durch eine kluge Anlage, eine souveräne Handhabung aktueller methodischer Ansätze und einen klaren, verständlichen Stil auszeichnet".

Das Comité International de Dachau hat seine Wurzeln in dem internationalen Häftlingskomitee, das sich kurz vor der Befreiung am 29. April 1945 im Konzentrationslager Dachau bildete. 1955 konstituierte es sich mit großer personeller Kontinuität erneut und stritt für die Errichtung der KZ-Gedenkstätte, die 1965 eröffnet wurde. Seither spielt das CID, das ehemalige Häftlinge aus 37 Ländern vertritt, eine wichtige Rolle in der Gedenkstätte; so hat es entsprechend einem Vertrag mit dem Freistaat Bayern aus dem Jahr 1966 ein Vetorecht bei der Bestellung der Gedenkstättenleitung. Die Mitglieder des Dachau-Komitees waren zunächst ausschließlich KZ-Überlebende, seit einigen Jahren verjüngt sich das Komitee vor allem durch Nachfahren der Verfolgten.

Präsident ist derzeit der Franzose Jean-Michel Thomas, sein Vize, der Israeli und Holocaust-Überlebende Abba Naor, folgte 2017 Max Mannheimer nach. Der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer war am 23. September 2016 im Alter von 96 Jahren verstorben. Der Zeitzeuge hatte eine Stimme von großem Gewicht, die er immer erhob, wenn es gegen neonazistische Umtriebe, antisemitische Entwicklungen oder eine geschichtsblinde Politik ging.

Die Vereinigung verleiht auch den General-André-Delpech-Preis, der an den langjährigen Präsidenten des Dachau-Komitees (1991 bis 2006) erinnern soll. 2013 wurde damit als erste Barbara Distel, die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau von 1975 bis 2008, in Amsterdam geehrt. Distel hatte die KZ-Gedenkstätte neben Auschwitz zu dem international bedeutenden Ort des Gedenkens und der Erforschung des KZ-Systems gemacht. Später erhielten Jos Sinnema für seinen Einsatz zur Erinnerung an die niederländischen Naziopfer sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel die seltene Auszeichnung, bis sie dann im Jahr 2016 an Albert Knoll, den Archivar der KZ-Gedenkstätte Dachau, ging.

Die Preisverleihung findet am Samstag, 17. März, um 17 Uhr im Auditorium des NS-Dokumentationszentrums, Max-Mannheimer-Platz 1, in München statt. Der Eintritt ist frei.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2018
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