KZ-Überlebende:"Ich brachte einen Sohn aus der Hölle zurück"

KZ-Überlebende: Miriam Rosenthal mit ihrem Sohn Leslie in Toronto im Dezember 2009

Miriam Rosenthal mit ihrem Sohn Leslie in Toronto im Dezember 2009

(Foto: privat)

Miriam Rosenthal war die letzte der sieben ungarischen Jüdinnen, die im Winter 1944/45 im Dachauer Außenlager Kaufering I Kinder zur Welt brachten. Jetzt ist sie mit 95 Jahren in Toronto gestorben.

Nachruf von Helmut Zeller, Dachau/Toronto

Sie bete immerzu, sagte Miriam Rosenthal einmal, dass die junge Generation die Welt verändere. Glaube, Liebe, Hoffnung - sie hielten Miriam Rosenthal auch in größter Not, in Płaszów, Auschwitz und Dachau. Daran denkt ihr Sohn Leslie jetzt mehr noch als sonst, auch am Montag, als er bei ihrem Begräbnis in Toronto das Kaddisch spricht. Miriam Rosenthal ist am Sonntag im Alter von 95 Jahren gestorben - die letzte der sieben jüdischen Frauen, die im Dachauer Außenlager Kaufering I im Winter 1944/45 Kinder zur Welt brachten. Alle überlebten.

Als ein jüdischer Offizier, First Lieutenant Ben J. Rosenthal, einen Tag nach der Befreiung am 29. April 1945 in einer Baracke die Babys entdeckt, bricht er in Tränen aus. "Er hat geweint wie ein Kind." Viele Jahre später erst sollte Miriam Rosenthal darüber sprechen - und das Rätsel um ein Foto in der Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte aufklären.

Die in Dachau lebende Journalistin Eva Gruberová hatte dieses Foto mit den sieben unbekannten Frauen, die Babys im Arm tragen, vor Augen, als sie Unglaubliches hörte. Auf einer Recherchereise in der Slowakei erfuhr sie 2008 von einer Frau, die angeblich in Dachau ein Kind entbunden hatte: Eva Fleischmannová aus Dunjaská Streda. Sie und Miriam Rosenthal waren die noch einzig lebenden Mütter auf dem Foto, aufgenommen von einem Soldaten der 7. US-Armee.

Eva Gruberová gewann in langen Gesprächen das Vertrauen der beiden Frauen und drehte zusammen mit Martina Gawaz einen Dokumentarfilm für den WDR. Es folgte das Buch "Geboren im KZ" (C.H.Beck), davor noch die Ausstellung "Sie gaben uns wieder Hoffnung. Schwangerschaften und Geburten in Kaufering I" an der KZ-Gedenkstätte, kuratiert von Eva Gruberová und der Historikerin Sabine Schalm.

Diese Geschichte der vielen Geschichten des KZ Dachau erregte in Israel großes Aufsehen. Eineinhalb Millionen jüdischer Kinder sind im Holocaust ermordet worden - die Geburten von Kaufering I waren für Uri Chanoch und Abba Naor, Vorsitzende der Überlebenden der Außenlager bei Kaufering/Landsberg, wie ein Zeichen des Triumphs über die Nationalsozialisten, die das jüdische Volk ausrotten und jede Erinnerung daran auslöschen wollten.

Uri Chanoch, inzwischen verstorben, und Abba Naor, heute Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, hatten selbst Kaufering I, das schrecklichste der Dachauer Außenlager, überlebt. Auch sie erfuhren erst jetzt von der Geburt der sieben Kindern im Lager. Sie sind mittlerweile Ehrenmitglieder des Dachau-Komitees. Zur 65. Befreiungsfeier und Ausstellungseröffnung im Jahr 2010 brachte Eva Gruberová nach so vielen Jahren fünf der sieben Kinder zusammen. Miriam Rosenthal schickte ein Grußwort, in dem sie vor Antisemitismus warnte, - und ihren Sohn Leslie, der seiner Mutter keinen Wunsch abschlagen wollte. Einer Miriam Rosenthal, dieser herzlichen und klugen, aber auch resoluten und energischen Frau, brauchte niemand mit Ausreden kommen.

"Ich bin einer der jüngsten Überlebenden des Holocaust, und daraus entsteht eine besondere Verantwortung für die Erinnerung", sagt Leslie Rosenthal heute. Geboren wurde er am 28. Februar 1945, einen Tag nach Purim. "Das sind die Tage, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden; es ist der Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück", heißt es in Kapitel 9 des Buches Esther. "Er war wunderschön, mit großen blauen Augen", sagte Miriam Rosenthal, die an einer Vergiftung infolge der Geburt eine Woche später fast gestorben wäre.

"Ich bringe dich nach Hause"

In den ersten Aprilwochen, der Geschützdonner der Alliierten rückte näher, hatte die 22-jährige Frau aus Komárno schon schreckliche Monate hinter sich gebracht. Kurz vor der Deportation nach Auschwitz im Juni 1944 hatte sie Béla geheiratet. Sie war die jüngste der 14 Kinder des Ehepaars Schwarcz, eine hübsche junge Frau, die viel auf Mode hielt, und sich zuweilen in die Synagoge der Reformgemeinde schlich, weil dort, anders als bei den Orthodoxen ein Organist im Gottesdienst spielte. Sie wollte in Budapest studieren, aber die antijüdischen Gesetze Ungarns ließen das nicht zu.

Von Auschwitz wurde sie in einem Transport in das KZ Płaszów bei Krakau verschleppt, dann wieder zurück nach Auschwitz - immer in Angst und Hunger und im zweiten Monat schwanger. Damals, erzählte Miriam Rosenthal, habe sie jeden Tag zu ihrem ungeborenen Kind gesagt: "Ich bringe dich nach Hause." Schließlich geht sie in einen Transport nach Augsburg, wo sie mit anderen Jüdinnen aus Auschwitz für die deutsche Rüstungsindustrie Zwangsarbeit leisten muss.

Geboren im KZ

Das Bild zeigt vier von sieben ungarischen Jüdinnen, die in Kaufering I Kinder zur Welt brachten. Alle überlebten und wurden von US-Soldaten im Stammlager Dachau nach der Befreiung fotografiert. Die zweite von rechts ist Eva Fleischmannová aus der Slowakei, die 2012 gestorben ist.

(Foto: USHM Washington)

Schließlich entdeckt die SS ihre Schwangerschaft. Sie wird nach Kaufering I gebracht und trifft dort in einem Erdbunker auf sechs weitere ungarische Jüdinnen, die auch schwanger sind. Die SS wollte die Frauen entbinden lassen und sie dann in den Tod schicken. Der Überstellungsbefehl in das Sterbelager Bergen-Belsen vom 13. März ist bereits vom ersten SS-Lagerarzt Fritz Hintermayer unterzeichnet, kann aber im Chaos der letzten Kriegswochen nicht mehr ausgeführt werden.

Am Abend des 26. April wird Kaufering I völlig geräumt - mit den etwa eintausend Kranken marschieren Miriam Rosenthal und die anderen Frauen, ihre Babys auf dem Arm, zu einem Zug nach Dachau. Am Morgen des 29. April, einem Sonntag, werden die Häftlinge im Stammlager Dachau ein letztes Mal gezählt. Der Lagerschreiber dokumentiert, dass sich unter den 32 335 Häftlingen 167 weibliche "Zugänge" aus Kaufering befinden, auch "7 Frauen mit Kindern".

Die Deutschen haben nahezu die ganze Familie Miriam Rosenthals ermordet. Ihr Mann Béla jedoch hat überlebt. Mit ihm und Leslie wandert sie über Paris und Havanna nach Kanada aus. "Die Zeit heilt keine Wunden", sagte Miriam einmal. Noch viele Jahre werden sie Albträume plagen, in denen die SS ihr Leslie wegnimmt und sie wieder im Viehwaggon nach Auschwitz ist. Dennoch erkämpft sie sich ein neues Leben, gründet mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann "Miriams Bookshop" in Toronto, engagiert sich bis ins hohe Alter in der jüdischen Gemeinde für Arme und Kranke - und geht, nachdem sie zu erzählen begonnen hat, zu Zeitzeugengesprächen in Schulen.

"Meine Mutter ist einzigartig", sagt Leslie; und das sagt er nicht allein aus Liebe. Neben ihm hinterlässt Miriam Rosenthal noch die Tochter Lilian, den Sohn Murray und eine großen Enkel- und Urenkelschar. In Dachau hatte sie einen Freund gefunden: Max Mannheimer, Auschwitz-Überlebender und Vizepräsident des Dachau-Komitees, der 2016 gestorben ist. Er hat Tränen geweint über ihr Schicksal und das der anderen Frauen. Er hat sie niemals getroffen und doch mit am besten gekannt. "Ich brachte einen Sohn aus der Hölle zurück, wie sollte ich da nicht an Gott glauben" - so war Miriam Rosenthal.

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