Erinnerung:Massive Wissenslücken

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Bis zu 1000 Schüler besuchen an manchen Tagen das ehemalige Konzentrationslager Dachau. Das überschreite eigentlich die Kapazitäten, sagen die Verantwortlichen. Es brauche mehr Personal. (Foto: Toni Heigl)

Junge Menschen zwischen 18 und 29 sind schlechter über den Holocaust informiert als ältere Semester. Das zeigt eine Umfrage der Jewish Claims Conference. Können schulische Pflichtbesuche in einer KZ-Gedenkstätte dagegenwirken?

Von Katharina Erschov, Dachau

Als Kind hat Eva Umlauf den Holocaust überlebt. Ihre Schilderungen darüber, wie sie als Zweijährige im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vor Schmerzen ohnmächtig wird, weil ein Tätowierer mit einer Nadel in ihren winzigen Arm einsticht, sind nicht so schnell vergessen. „Ich habe keine Erinnerungen an diese Szene, aber ich glaube, die Nadeln beim Eindringen in die Haut zu spüren.“ Es ist eine Passage, die sie bei ihren Lesungen vor Schulklassen oft zitiert.

Vor wenigen Tagen erst ist Eva Umlauf von der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zurückgekehrt. „Es waren nur noch wenige Überlebende da, und die, die da waren, wirkten zerbrechlich“, sagte die 82-Jährige. 56 Zeitzeugen waren angereist – vor zehn Jahren waren es 200. Das hat viele betroffen gemacht und die Frage aufgeworfen, wie die Erinnerungspflege in Zukunft aussehen könnte. Vor allem vor dem Hintergrund einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Jewish Claims Conference, die ergeben hat, dass das Wissen um den Holocaust global schwindet.

Auf Social Media kursieren viele Holocaust-leugnende Inhalte

Rund zwölf Prozent der deutschen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren erklärten darin, vom Holocaust noch nichts gehört zu haben, oder sie waren sich zumindest nicht sicher, dass ihnen der Begriff bekannt ist. In Frankreich waren es gar 46 Prozent. Das stellte die Umfrage heraus, für die etwa 1000 Menschen, neben Deutschland und Frankreich auch aus Österreich, Großbritannien, Polen, Ungarn, Rumänien und den Vereinigten Staaten, online befragt worden sind.

Knapp 50 Prozent der befragten Deutschen wussten zudem nicht, dass während des Holocausts sechs Millionen Juden ermordet worden sind. In allen untersuchten Ländern sind die 18- bis 29-Jährigen eher der Ansicht, die Zahl sei übertrieben worden. Gleichzeitig war die Zahl der Holocaustleugner in Deutschland und Polen mit zwei Prozent der 18-bis 29-Jährigen jedoch sehr klein. Die Mehrheit der Befragten aus allen Ländern gab außerdem an, Holocaust-leugnende Inhalte auf Social Media mindestens einmal gesehen zu haben.

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Vor dem Hintergrund dieser „erschütternden Zahlen“ bringt die Bundesschülerkonferenz eine alte Forderung auf den Diskussionstisch – der nach verpflichtenden Gedenkstättenbesuchen für Schulklassen. „Ich verstehe nicht, warum man ständig von Neuem über diese sinnvolle Initiative diskutieren muss“, sagt auch der Geschichtslehrer und Stadtratsreferent für Zeitgeschichte in Dachau, Richard Seidl. Ginge es nach ihm, müsste der Gedenkstättenbesuch zum Pflichtprogramm an jeder Schule Deutschlands werden. Pflichtbesuche seien zwar noch keine Impfung vor dem Vergessen, „sie sind aber ein wichtiger Baustein, der davor schützt“, so Seidl.

Die Pflege des Gedenkens sei schwieriger, je schlechter die Bedingungen dafür sind, sagt Seidl. „An einer Förderschule sind die Voraussetzungen nicht dieselben wie an einem Gymnasium – das muss aber lange noch nichts über die Gesinnung der Schüler aussagen“, so der Lehrer. Deshalb könnten die ermittelten Zahlen der Jewish Claims Conference vorerst nur bedingt über potenzielle Bildungsmissstände im Land aufklären.

Bei der Nationalität gab die Mehrheit der Befragten aus Deutschland sich als „ethnische Deutsche“ aus. Aus der Umfrage geht nicht hervor, welcher Schulform die jungen Erwachsenen angehörten, die nicht sicher sagen konnten, ob sie vor der Umfrage schon einmal etwas vom Holocaust gehört haben. Die Teilnehmer mit und ohne Hochschulzugang hielten sich aber in etwa die Waage.

Ältere scheinen besser informiert als Jüngere

Die Umfrage zeigt auch, dass ältere Semester besser über den Holocaust informiert sind. Seidl findet das nicht überraschend. „In meiner Schulzeit war der Nationalsozialismus beinahe in jedem Schulfach Thema. Mein Geschichtsunterricht ging aber auch nur bis zur Wende“, sagt der Lehrer. Mittlerweile sei mehr Unterrichtsstoff dazugekommen. Lehrinhalte stünden daher in Konkurrenz zueinander, manche Themen würden deshalb oberflächlicher behandelt. „Wir haben einen Lehrermangel. Es kommt vereinzelt vor, dass Schüler ein halbes Jahr keinen Geschichtsunterricht haben“, sagt Seidl.

Dass jemand bei einer Frage nach dem Holocaust vor ihm aber „große Augen macht“, habe er in seiner Lehrerlaufbahn noch nie erlebt. „Es wird immer schwieriger, das Gedenken aufrechtzuerhalten, doch wir können uns nicht immer nur beklagen. Wir müssen die Mittel nutzen, die wir haben“, sagt auch Eva Umlauf.

Unzählige Bildungsangebote vermitteln niederschwelligen Zugang zur NS-Geschichte

Den Besuch einer Gedenkstätte hält die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Gabriele Hammermann, für einen zentralen Bestandteil in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. „Um einen Lerneffekt zu erreichen, sollten Besuche an KZ-Gedenkstätten auf so freiwilliger Basis wie möglich erfolgen. Dies läuft dem Gedanken von Pflichtbesuchen zuwider“, schreibt sie auf eine Anfrage der SZ. Eine ihrer Sorgen ist, dass der Gedenkstättenbesuch mit einem einzigen Rundgang abgehakt wird, während eine sorgfältige Nachbereitung des Gesehenen und Gehörten nicht stattfindet. „Wir wünschen uns, dass Schulklassen vermehrt längere Bildungsprogramme buchen können, bei denen sie sich intensiver mit der NS-Zeit und den jeweiligen Orten auseinandersetzen können“, schreibt sie.

NS-Dokumentationszentren, ehemalige KZ-Friedhöfe oder ehemalige Außenlager seien historische Orte, an denen mit einem starken lokalen Bezug über die NS-Zeit gelernt werden könne. „Es gibt unzählige Bildungsangebote, die einen niederschwelligen Zugang zur NS-Geschichte vermitteln, wie etwa unsere Graphic Novel ‚Ein Überleben lang‘.“

Vor Schulklassen liest Eva Umlauf regelmäßig aus ihrer Biografie „Die Nummer auf deinem Unterarm ist so blau wie deine Augen“ vor. (Foto: Toni Heigl)

Für Eva Umlauf ist es wichtig, dass auch Schüler mit Migrationshintergrund begreifen, was der Holocaust war. Sie versteht, dass manche ausländische Schüler sich durch die Erinnerungspflege in Deutschland nicht angesprochen fühlen. „Es ist nicht ihre Geschichte“, sagt Umlauf. Doch die Lehren aus dem Nationalsozialismus seien so universell, dass sie jeder verinnerlichen müsse, findet sie. Daher befürwortet sie im Gegensatz zu Hammermann auch ein bundesweites Pflichtprogramm zum Gedenkstättenbesuch, wie es das bereits in Bayern gibt.

„So viel Aufmerksamkeit hat man als Lehrer nie“

Der Besuch einer Gedenkstätte werde umso wichtiger, je weniger Überlebende es gibt, sagt Seidl. „Wenn ich meine Schüler zum Zeitzeugengespräch mit Abba Naor mitnehme, sind sie für eineinhalb Stunden mucksmäuschenstill – so viel Aufmerksamkeit hat man als Lehrer nie“, sagt er. „Die Gefahr, dass wir es mit dem Gedenken – mit den begrenzten Ressourcen, die wir haben – übertreiben, ist doch gar nicht gegeben.“

Je öfter Abba Naor nach Deutschland kommt, desto mehr Menschen sieht er in der Gedenkstätte Dachau versammelt. „Sie nehmen ihre Geschichte sehr ernst. Sie kommen auch an den Wochenenden und sie kommen freiwillig und jedes Jahr sind es mehr Menschen“, sagt der Überlebende. „Es ist doch kaum vorstellbar, wie Deutschland ohne seine Erinnerungsarbeit und die Gedenkstätten wäre“, sagt er.

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