Hoftheater Bergkirchen:Sezuan ist überall

Das Hoftheater Bergkirchen macht aus Brechts Drama "Der gute Mensch von Sezuan" eine Parabel von beklemmender Aktualität. Sie zeigt die Zerrissenheit und Hilflosigkeit unserer Gesellschaft.

Von Dorothea Friedrich

Hoftheater Bergkirchen: Gespalten in zwei Persönlichkeiten: Janet Bens (links, mit Herbert Müller und Julia Uttendorfer) spielt in der Inszenierung des Hoftheaters Bergkirchen die hilfsbereite Prostituierte Shen Te und ihr gewissenloses Alter Ego Shui Ta.

Gespalten in zwei Persönlichkeiten: Janet Bens (links, mit Herbert Müller und Julia Uttendorfer) spielt in der Inszenierung des Hoftheaters Bergkirchen die hilfsbereite Prostituierte Shen Te und ihr gewissenloses Alter Ego Shui Ta.

(Foto: joergensen.com)

Eine Nutte mit ausgeprägtem Helfersyndrom. Ein gefühlsamputiertes, egomanisches Mannsbild. Eine Übermutti, die für ihren erwachsenen Sohn nur das Beste will, koste es die anderen, was es wolle. Ein weiblicher Miethai, dem die Eurozeichen in den Augen blinken. Eine Tabakfabrik, in der Arbeiter unter erbärmlichsten Bedingungen schuften. Ein Slum in einer Mega-City irgendwo auf der Welt. Der Stoff, aus dem moderne Dramen sind? Ja, wenn der Dramatiker Bertolt Brecht ist, drei hilflose Götter eine ganze Lawine von Ereignissen auslösen, das Stück "Der gute Mensch von Sezuan" heißt, zwischen 1938 und 1940 entstanden ist - und klug ins dritte Jahrtausend transponiert wird.

Unter der Regie von Herbert Müller, im fabelhaften Bühnenbild von Ulrike Beckers und begleitet von der eindringlichen Musik Max I. Milians hatte das Werk am Freitagabend Premiere im ausverkauften Hoftheater Bergkirchen. Janet Bens, Julia Uttendorfer, Jürgen Füser, Herbert Müller und Ansgar Wilk machten aus dem Stück eine Parabel von beklemmender Aktualität und zeitloser Gültigkeit. Müller hat das im Original rund vier Stunden dauernde Werk auf gut zwei Stunden gekürzt und auf seine Essenz reduziert: auf die Geschichte der Prostituierten Shen Te und ihres Alter Ego Shui Ta (hervorragend: Janet Bens). Sie gewährt drei Göttern Obdach. Die sind in der (bei Brecht fiktiven) chinesischen Provinz Sezuan unterwegs, um wenigstens einen guten Menschen zu finden, der der Welt Daseinsberechtigung verleiht. Sie glauben, das Shen Te dieser Mensch ist. Mit einem kleinen Geldgeschenk soll sie ihr nicht vorhandenes Kapital mehren und weiter ihrem Gutmenschentum frönen. Doch das wird ihr Verhängnis. Sie wird hemmungslos ausgenutzt, verliebt sich zu allem Unglück auch noch in den bekennenden Egoisten und moralisch reichlich verkommenen Flieger Yang Sun (Ansgar Wilk). In ihrer Not erfindet "der Engel der Vorstadt" den Vetter und Erzkapitalisten Shui Ta als ihr Alter Ego. Der hat im Gegensatz zu ihr kein Gewissen, ist ein erbarmungsloser Ausbeuter, der in einer globalisierten Welt und nicht im Klein-Klein des Slums zuhause ist. Erst als die Nachbarn - nicht ganz uneigennützig - die Rückkehr ihrer Wohltäterin fordern, zeigt sich, dass die vom Flieger schwangere Shen Te in der Haut des Shui Ta steckt - und sich darin zeitweise gar nicht mal so unwohl gefühlt hat.

So weit, so Brecht. Im Hoftheater Bergkirchen aber ist Sezuan überall: Ulrike Beckers projiziert Collagen von Slums in Asien, von Flüchtlingslagern in Jordanien, von Näherinnen in Bangladesh, von Containersiedlungen für Asylsuchende, von Booten vor Lampedusa an die Wand. Die Musik von Max. I. Milian hämmert die Bilder in die Köpfe. Ein übermannshoher Zaun trennt die da draußen von denen da drinnen, wobei längst nicht klar ist, wer draußen ist (der Zuschauer?) und wer drinnen (die Schauspieler?). Die Darsteller jedenfalls zeigen in ihren Doppel- und Dreifachrollen überzeugend Zerrissenheit, Hilflosigkeit und Janusköpfigkeit unserer Gesellschaft. Die intelligente Regie von Herbert Müller fordert aber auch das Publikum heraus: Etwa, wenn die quasi in zwei Persönlichkeiten gespaltene Shen Ta den als Richter fungierenden Göttern vorwirft: "Euer einstiger Befehl, gut zu sein und doch zu leben, zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich weiß nicht, wie es kam: gut sein zu anderen und zu mir konnte ich nicht zugleich. Denn wer könnte lang sich weigern, böse zu sein, wenn da stirbt, wer kein Fleisch isst?" Hallo, möchte man da rufen. Da steckt natürlich eine gute Portion Kapitalismuskritik drin, aber auch eine bekannte biblische Botschaft: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Aber pass' auf, dass du dich selbst nicht vergisst, sonst klappt das mit der Nächstenliebe auch nicht. Bei Brecht können auch die Götter diesen Zwiespalt nicht aufheben - und entschwinden. Zurück bleibt die alleingelassene Shen Te, die noch viel weniger eine Lösung weiß - und das auch dem Publikum mitteilt: "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss. Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!" Ist er aber nicht. Jedenfalls nicht bei dieser bis ins Detail stimmigen Inszenierung, die nur gnadenlose Optimisten fröhlich nach Hause gehen lässt. So behält der berühmteste Satz des Stücks weiter seine Gültigkeit: "Wir stehen selbst betrübt und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."

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