Warum eine Frau täglich auf Shoppingtour geht, ist heutzutage psychologisch gut erforscht. In Zeiten, in denen diese Beschäftigung noch Einkaufsbummel hieß, war das anders. Selbst im Paris der späten 1950er-Jahre war der allein verdienende – seinerzeit noch Herr des Hauses genannte – gutbürgerliche Ehemann etwas verwundert über die Kauflust seiner Ehefrau. Das ist die Ausgangslage des Debutstücks von Marc Camoletti (1923-2003) „Die Perle Anna“. Diese geistvolle Boulevardkomödie ist seit ihrer Uraufführung im Jahr 1958 ein Dauerbrenner und wird immer wieder modernisiert.
Hoftheater-Regisseur Herbert Müller hat für die Weilheimer Festspiele 2023 weitgehend das Original auf die Bühne gebracht. Nun ist diese Inszenierung mit ihrem nostalgischen Charme im Hoftheater Bergkirchen zu sehen. Ein Glücksfall für alle, die auf gepflegte Sprache, hintergründigen Witz und Leichtigkeit mit manchmal ernstem Hintergrund, also auf gutes Boulevard-Theater Wert legen.
Haushälterin Anna (Yvonne Brosch) – dunkle Kleidung, schwarz-weiße Schürze, Zigarillo im Mund, Federwisch (Vorgänger des heutigen „Staubmagneten“) in der Hand, will gerade eine Pause einlegen und es sich auf dem Sofa ihres Arbeitgebers gemütlich machen, als dieser unerwartet auftaucht.
Bernard ist der Typ höherer Beamter und wirkt erst einmal mindestens so farblos wie sein Outfit. Doch Schauspieler Timo Wenzel wird noch überzeugend zeigen, welche trügerische Fassade Monsieur sich da zugelegt hat. Erst einmal ist Bernard jedoch vollauf damit beschäftigt, Anna auf ihren Platz zu verweisen und sie zugleich zu umschmeicheln. Schließlich will er erfahren, was es mit den Einkaufsorgien von Madame Claudine, seiner angetrauten Gattin, auf sich hat.
Die Haushälterin vermutet, dass die Eheleute Geheimnisse haben
Die sonst so redselige Anna windet sich und erklärt mit knappen Worten und deutlicher Körpersprache: gar nichts. Yvonne Brosch spielt diese Haushälterin mit frechem Mundwerk, beredter Mimik, Gestik und einer gehörigen Portion Witz. Denn Anna weiß oder vermutet, dass die Eheleute ihre Geheimnisse haben. Monsieur ist unsterblich in eine sehr viel jüngere Frau verliebt, Madame ahnt, dass es eine Nebenbuhlerin gibt und will sich ihrerseits schon mal prophylaktisch für die mutmaßliche Untreue ihres Gatten rächen.
Einen potenziellen Kandidaten hat sie bereits gefunden; kein Wunder, ist sie doch eine blendende Erscheinung: Hochgewachsen, blonde Hochsteckfrisur, schwarzer Faszinator, strenges schwarz-weißes Outfit und Louboutin(-nachempfundene)-High Heels. Darstellerin Kerstin Becke vervollständigt das Bild mit pseudo-selbstsicherem Gehabe und xanthippenhaftem Genöle.
Eine Geschichte mit vielen unerwarteten Wendungen
Bernard schmiedet derweil komplizierte Pläne, um endlich die Wohnung für sich zu haben. Er schickt seine Frau zu deren Mutter, seine Haushälterin zu deren Vater und sich selbst auf Dienstreise nach Lyon. Klar, dass niemand irgendwohin fährt, wir befinden uns schließlich mitten im Boulevard-Theater, das jetzt so richtig Fahrt aufnimmt. Alle kehren schnurstracks in die Wohnung zurück.
Anna will es sich endlich mit Calvados und Rauchwaren gemütlich machen, kommt aber nicht dazu, denn Madame taucht mit ihrem Robert auf. Ruben Hagspiel ist dieser vordergründig tumbe Tor, der so viel lieber Liebe in seiner Junggesellenwohnung statt im ehelichen Schlafzimmer gemacht hätte. Doch Madame Claudine ist fest davon überzeugt: „Wenn eine anständige Frau das tut, kann sie das nicht in einem möblierten Zimmer tun.“ Also verschwindet sie irgendwann nebst dem auserkorenen Lover, der übrigens von Beruf Boxer und ein durchtriebener Casanova ist, im Eheschlafzimmer.
Kaum hat sich Anna ein wenig erholt, schleppt Bernard seine junge Angebetete (eine zauberhafte und doch berechnende, auf den eigenen Vorteil bedachte Sarah Giebel) an. Sie will gleich mit Sack und Pack bei ihm einziehen, fühlt sich schon ganz als Hausherrin, umgarnt den von ihr vorzugsweise „Wauwau“ genannten Möchtegern-Casanova mit jungmädchenhaftem Gebaren und die skeptische Anna mit gekonntem Liebreiz.
Anna hat alle Mühe, Begegnungen der unerwünschten Art dieses Quartetts zu vermeiden – und schafft es schließlich, den gordischen Liebesknoten irgendwie durchzuhauen. Ob es ein Happy End gibt? Nur so viel sei dazu gesagt: Es gibt noch einige Wendungen der Geschichte, mit denen niemand im Publikum rechnen kann.
Passagenweise erinnert diese Komödie an Arthur Schnitzlers bösen „Reigen“, diese scharfe Analyse von Triebfedern einer Gesellschaft im Umbruch. Camoletti, im „Erstberuf“ Maler, ist gleichfalls ein genauer Beobachter der bigotten, verlogenen Gesellschaft seiner Zeit. Doch er malt seine Charaktere mit zarter, bisweilen zärtlicher Hand, zeichnet seine Protagonisten in hellen Farbtönen, lässt die dunklen Schatten sichtbar werden, aber niemals die Oberhand gewinnen.
Genau das zeigen Regisseur und Darsteller im stimmigen Bühnenbild von Ulrike Beckers – und schenken damit ihrem begeisterten Publikum eine amüsante, witzige, sehenswerte Perle unter den vielen Boulevardkomödien.
Das Stück „Die Perle Anna“ ist am 7., 13., 20. und 27. Juni jeweils um 20 Uhr im Hoftheater Bergkirchen zu sehen.