Historie:Der Raub der Glocke

Im Kriegsjahr 1917 entwendet ein Bauer in Großberghofen das Ave-Maria-Geläut und vergräbt es auf seinem Acker. Der scharfsinnige Schuster Simon Hutter deckt den Diebstahl auf, der in dem Dorf große Unruhe ausgelöst hat.

Von Benjamin Emonts

Deutschland im Jahre 1917. Die Aussichten, den Krieg noch zu gewinnen, werden immer schlechter und der Hunger der Bevölkerung immer größer. Die anfängliche Kriegsbegeisterung ist abgeflaut. Die deutsche Kriegsmaschinerie aber läuft weiter. Und: Sie braucht Rohstoffe, besonders für die Rüstungsindustrie. In diesem Wissen verordnet das deutsche Kriegsministerium am 1. März 1917 die Beschlagnahme aus Bronze gegossener Glocken. Großberghofen bleibt zunächst verschont. Doch ein paar Monate später sollte sich eine rätselhafte Geschichte ereignen, die das kriegsmüde Dorf in helle Aufregung versetzt.

Im Kaiserreich werden 1917 mehr als 60 000 Glocken für die Herstellung von Waffen eingesammelt und eingeschmolzen. Die Verordnung trifft besonders stark Kirchen, Klöster und Kapellen. Im katholischen Bayern schafft das vielerorts Unruhe. Die Tatsache, dass geweihte Glocken als Kanonenkugeln über die Schlachtfelder fliegen sollen, empört viele Gläubige. Wohingegen Patrioten, darunter auch Geistliche, ihr Buntmetall in der Hoffnung auf einen Sieg oftmals bereitwillig abgeben. Blasius Thätter sitzt im Huttermuseum in Großberghofen und erzählt eine Geschichte, die ihm bereits in Kindheitstagen von seinem Vater überliefert wurde - und in deren Schlussakt er selbst eine Nebenrolle spielt.

Historie: Wohl für immer verschwunden bleibt die Ave-Maria-Glocke der Kirche Sankt Georg in Großberghofen.

Wohl für immer verschwunden bleibt die Ave-Maria-Glocke der Kirche Sankt Georg in Großberghofen.

(Foto: Toni Heigl)

Thätters Augen leuchten, er ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Seit Jahrzehnten erforscht der ehemalige CSU-Landtagsabgeordnete die Geschichte seines Geburtsorts Großberghofen, dem beschaulichen Dorf im Landkreis Dachau, das er nie verlassen hat. Thätter also erzählt vom Juli 1917. Der Hunger, die vielen Gefallenen: In Großberghofen sind die meisten Menschen des Kriegs überdrüssig. In dieser Zeit kommen zwei Männer in das Dorf und teilen dem Expositus Nikolaus Hoffman mit, dass zwei der drei Glocken der dörflichen Kirche für Kriegszwecke beschlagnahmt würden. Die Geistlichkeit ist damit einverstanden. Unter der Dorfbevölkerung allerdings herrscht allgemeiner Jammer.

Noch am selben Tag werden die zwei Glocken, acht und zwölf Zentner schwer, vom Kirchturm heruntergenommen. Ganze acht Tage lang liegen sie auf dem Friedhof hinter der Kirche. Bis plötzlich, über Nacht, die Ave-Maria-Glocke verschwunden ist. Gestohlen. Die Dorfbewohner sind bestürzt. Niemand hat etwas bemerkt. Wer steckt wohl dahinter? Welches Motiv hatte der Dieb? Und wo ist die Glocke verblieben? Ob der allgemeinen Ratlosigkeit verdächtigt einer den anderen. Besonders außer sich ist Expositus Hoffman. Der patriotisch gestimmte Pfarrer sagt jedem: "Der Krieg muss noch gewonnen werden." Das Militär und die Gendarmerie verhören vor seinen Augen tagelang die Dorfbewohner, sie kontrollieren, durchsuchen. Vom Glockendieb aber fehlt jede Spur.

Großberghofen

Viele Bewohner von Großberghofen kommen 1897 zur Glockenweihe.

(Foto: privat)

Nur Simon Hutter, ein einfacher aber gewiefter Schuhmacher, nach dem heute das Großberghofener Heimatmuseum benannt ist, ahnt, wer der Dieb sein könnte. Von Hutter überliefert ist ein mehrseitiges Schriftwerk, in dem er die Geschichte der Großberghofener Kirchglocken, sprachlich durchaus talentiert, erzählt. Demnach hat Hutter von Johann Thätter, dem Großvater von Blasius, erfahren, dass der Bauer Feicht am Tag nach dem Diebstahl in aller Herrgottsfrühe vom Eggen zu seinem Hof heimgefahren ist. Hutter kommt das merkwürdig vor. Abends, als es dunkel ist, schleicht er über den frisch bearbeiteten Acker. Eine kleine Vertiefung fällt ihm auf. Einmal, zweimal, dreimal sticht Hutter mit seinem Degen ins Erdreich. Plötzlich spürt er etwas Hartes, er vernimmt einen metallenen Ton. Tatsächlich: Es ist die Glocke. "Einen gut Männerschuh" tief vergraben liegt sie unter der Erde, schief, und mit der Krone nach oben.

Was also jetzt tun? Eine Nacht lang grübelt Hutter. Am nächsten Morgen verständigt er Bürgermeister Hacker und den Kirchenpfleger Kneiling - unter der Bedingung, dass sie niemandem etwas sagen, auch nicht dem Expositus. Schließlich befürchtet Hutter, der könne die Sache anzeigen, was zur Folge gehabt hätte, dass die Glocke eingeschmolzen und Bauer Feicht inhaftiert wird. Hutters Plan: still sein, abwarten und beobachten.

Dem Bauern Feicht, ein im Dorf nicht sonderlich beliebter und daher mäßig integrierter Mann, traut Hutter indes keinen Zentimeter über den Weg. Schließlich weiß Hutter auch von dessen Kontakt zu einem Metallhändler aus Dachau; ein moralisches Motiv für den Diebstahl, etwa die Liebe zur Kirche, traut der dem Bauern nicht zu. Nein, Bauer Feicht will sich an der Glocke bereichern, darin ist sich Hutter ziemlich sicher.

Großberghofen

Im Juli 1917 werden zwei der drei Glocken, acht und zwölf Zentner schwer, vom Kirchturm abgenommen. Sie sollen für Kriegszwecke beschlagnahmt werden.

(Foto: privat)

So bleibt die Glocke, im Erdreich vergraben, eineinhalb Jahre liegen. Der Krieg ist inzwischen verloren. Und spätestens, als 1919 die Revolution ausbricht, schert sich niemand mehr um den Verbleib der Glocke. Außer Hutter. Der sagt Feicht eines Tages, er wisse von der Glocke. Feicht ist schockiert, bleibt aber ruhig. In der Fastnachtszeit im Februar 1919, es liegt noch Schnee, fährt Hutter schließlich mit einigen kräftigen Männern und einem Lastschlitten zum Grab der Glocke. Sie ist rasch ausgegraben und aufgeladen. "Und dahin ging's unter großer Freude."

Sie lagern die Glocke zwei Tage lang im Stadel von Simon Hutter - bis am dritten Tag alles ans Tageslicht kommt. Bauer Feicht wütet, sagt aber nichts. Sein Sohn allerdings, laut Hutter ein "radikaler Lump", schreibt an den Bürgermeister, er werde Großberghofen stürmen lassen. Es passiert: nichts. An einem Freitag, zum Rosenkranzbeten, läutet die Ave-Maria-Glocke wieder. "O, diese Freude, viele Leute weinten", berichtet Hutter. Und Feicht? Er lässt außen an der Kirche mit blauer Kreide, vor dem Sonntagsgottesdienst für alle Dorfbewohner lesbar, den Spruch schreiben: "Grüß Gott, liebe Glocke. Schenk uns wieder deinen Ton. Ein Lump hat dich vergraben. Ein Pharisäer hat dich herausgetan."

Ein gutes Ende nimmt die Geschichte freilich nicht. Am 15. Januar 1942 wird die Glocke abermals zu Kriegszwecken vom Kirchturm genommen. Blasius Thätter, gerade fünf Jahre alt, beobachtet das Schauspiel. "Helfen wollte damals keiner der Dorfbewohner", erzählt er. Als die Glocke nach zwei Tagen mit einem Auto weggebracht wird, schauen die Menschen hilflos zu. Die Ave-Maria-Glocke wurde bis heute nicht mehr gesehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: