Heimatmuseum:Heimat Marke Eigenbau

Eine Ausstellung von Hobbyhistoriker Horst Pajung zeigt eindrucksvoll, wie Tausende von Flüchtlingen nach dem Krieg die Entwicklung Karlsfelds vom Straßendorf zur einwohnerstärksten Großgemeinde im Landkreis vorantrieben. Mit den Vorschriften nahm es damals keiner so genau

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Kühe auf der Weide, Hennen, die um kleine Hütten herumflattern, staubige Schotterstraßen und Frauen mit Kopftüchern, die den Männern beim Mauern helfen - das war das Leben in Karlsfeld Anfang der Fünfzigerjahre. Alte Schwarz-Weiß-Fotos zeugen von diesen längst vergangenen Zeiten. Heute wirken sie zum Teil idyllisch, aber das Leben damals war wohl eher hart und entbehrungsreich. Viele Familien lebten in provisorischen Baracke mit zwei Zimmern, bauten Gemüse an und hielten Schweine, um sich ernähren zu können. "1949 war Karlsfeld ein Bauerndorf mit Ochsen und Traktoren", erklärt Horst Pajung. Wer Karlsfeld heute kennt, kann sich das kaum mehr vorstellen.

Pajung ist Hobbyhistoriker. Im Rahmen der Geschichtswerkstatt des Dachauer Forums hat sich der Karlsfelder in den vergangenen Monaten intensiv mit den Wirtschaftswunderjahren beschäftigt, speziell in seinem Heimatort. "Karlsfeld ist in diesen Jahren rasant gewachsen. 1950 hatte der Ort 2000 Einwohner, zehn Jahre später waren es schon 6500." In der Sonderausstellung "Alles wächst! Bauboom im Karlsfeld der 1950er Jahre" im Heimatmuseum ist diese Entwicklung eindrucksvoll dokumentiert. Am Sonntag, 3. Februar, ist sie wieder von 14 bis 17 Uhr geöffnet.

Die fünfziger Jahre

Das Leben im Karlsfeld der Fünfzigerjahre war kein Zuckerschlecken: Die Leute mussten hart anpacken. Repros: Niels P. Jørgensen

"Viele Gemeinden sind nach dem Krieg durch die Flüchtlinge um etwa 30 Prozent gewachsen", sagt Pajung. "Die meisten haben ihre neuen Einwohner aber bald wieder verloren. Karlsfeld nicht. Karlsfeld hat eine einzigartige Entwicklung im Landkreis genommen." In den Zwangsarbeiterlagern rund um den Ort hatten etwa 10 000 Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vorübergehend eine Bleibe gefunden. Das Zusammenleben gestaltete sich meist schwierig, denn alles war sehr beengt. Ganze Familien mussten sich ein Zimmer teilen. Wer konnte, versuchte dem Lager zu entfliehen. In Karlsfeld verpachteten oder verkauften die Bauern der Umgebung hin und wieder ihren Grund. Die Flüchtlinge ließen sich gerne dort nieder, schon wegen der guten Bahnanbindung und den vielen Arbeitsplätze in der Nähe: Das ehemalige Flugmotorenwerk von BMW, dass nun zum Reparaturwerk der Amerikaner geworden war, bot Jobs, aber auch das Metallwerk Wunder oder Sport Berger, Krauss Maffei in Allach, Diamalt und die Papierfabrik in Dachau waren beliebte Arbeitgeber, später - von 1955 an - auch MAN. Und so wuchs Karlsfeld als einziger Ort im Landkreis nicht nur um 20 oder 30 Prozent wie Dachau, Haimhausen, Günding oder Hebertshausen, sondern um erstaunliche 215 Prozent.

Für die Gemeinde und damit Bürgermeister Georg Eichinger bedeutete dies eine enorme Herausforderung, denn überall schossen Schwarzbausiedlungen wie Pilze aus dem Boden. Je nachdem auf welchen Acker die Bauern gerade verzichten wollten. Auch die Löwenbräu Brauerei verkaufte 1951 ihre Ländereien im Krenmoos. Früher wurde dort Heu für die Pferde produziert, außerdem stach man hier Torf, um die großen Sudkessel in München zu heizen. Doch nach dem Krieg verlor das Unternehmen das Interesse daran. Mit dem Ausbaggern des Karlsfelder Sees für den Rangierbahnhof in den Jahren 1940 bis '42 war der Grundwasserspiegel abgesunken. Die Folge: Der Ertrag auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen ging deutlich zurück. Die Bauern verkauften vor allem die schlechten Wiesen, die sie nicht mehr bewirtschaften wollten.

Die fünfziger Jahre

Auch Kinder wurden beim Steineschleppen und dem Hausbau gebraucht. Repro: Niels P. Jørgensen

Anfangs errichteten die Siedler nur gebrauchte Baracken oder kleine Schuppen auf ihrem Grund, um dem tristen Lageralltag zu entfliehen. Manche begnügten sich sogar mit einem Erdloch. Strom und fließend Wasser gab es nicht. Alte Fotos von der sogenannten Reiniger-Siedlung im Nordosten Karlsfelds, wo Krebsbach und Moosgraben sich kreuzen, bezeugen dies. Um nicht zu verhungern, bauten die Flüchtlinge Obst und Gemüse an, hielten Hühner und Schweine, die Grundstücke waren mit etwa 1900 Quadratmeter schließlich relativ groß. "Wenn die Oma zu Besuch kam, übernachtete sie beim Schwein im Stall", berichtet die Leiterin des Heimatmuseums Ilsa Oberbauer. Für heutige Verhältnisse unvorstellbar. Aber die Flüchtlinge aus Südosteuropa waren Entbehrungen gewöhnt. Zudem kamen sie aus einem "völlig anderen Kulturkreis", erzählt Ilsa Oberbauer.

Wer konnte, sparte und sammelte Baumaterialien. "Damals konnte man ja nicht einfach in den Baumarkt fahren und sich holen, was man brauchte", erklärt Pajung. Die Ziegel stammten meist aus im Krieg zerstörten Bauten und mussten erst mühevoll geklopft werden. Anfang der Fünfzigerjahre wurden die ersten Steinhäuser errichtet. Die ganze Familie, Nachbarn und Freunde halfen dabei - auch die Frauen. Die Gemeinde bemühte sich, den Bauwilligen so schnell wie möglich Genehmigungen zu erteilen. Doch hin und wieder versagte sie diese auch. So etwa in der Krebsbachsiedlung.

Die fünfziger Jahre
(Foto: Niels P. Jørgensen)

Eine Feldmochinger Bäuerin hatte dort einer Schar von Flüchtlingen etwa sieben Hektar Land verpachtet. Doch als die ersten schon Mauern errichteten, kamen dem Gesundheitsamt große Bedenken, es könnte sich eine Typhusepidemie ausbreiten. Das Problem war nämlich, dass es auf dem Areal weder Wasserleitungen noch Kanalisation gab. Die Häuslebauer wollten für ihren täglichen Bedarf das Grundwasser anzapfen. Es floß seinerzeit nur 50 Zentimeter unter der Oberfläche und war deshalb leicht zu bekommen, aber eben auch durch Abwässer sehr gefährdet. Das Gesundheitsamt nahm Bodenproben. Bei dem Ergebnis grauste es den Amtsleiter, denn aus dem Boden quoll eine grün-braune Brühe. Und so verweigerte das Landratsamt eine Baugenehmigung.

Stattdessen trieb man etwas weiter westlich zwischen Osten- und Krenmoosstraße unter Hochdruck die sogenannte Gagfahsiedlung voran. 110 Wohnungen wollte die Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Angestellten Heimstätten (Gagfah) in Doppelhäusern errichten. Die Gemeinde versuchte, die Siedler der Krebsbachsiedlung von dem sozialen Wohnungsbauprojekt zu überzeugen. "Hohe Beamten traten im Alten Wirt auf und unterstrichen die Vorteile", erzählt Pajung. 90 Prozent der Siedler vom Krebsbach ließen sich umstimmen und zogen 1954 in die Gagfah-Siedlung. Dort wurden übrigens die ersten Wasserleitungen verlegt und eine Kanalisation gebaut, die man nach und nach bis zum Klärwerk vergrößerte. "Das war der Kern der Infrastruktur für ganz Karlsfeld", erzählt Pajung.

Die fünfziger Jahre

Repro: Niels P. Jørgensen

In der Krebsbachsiedlung wurde aber dennoch gebaut. "Wer schnell genug war, durfte bleiben", sagt Pajung. Später legalisierte man die Schwarzbauten. Allerdings mussten die Anwohner erst nachweisen, dass sie ihren Grund gekauft hatten. Die Gemeinde bestand auf eindeutigen Rechtsverhältnissen. Sieben Jahre verhandelten die Siedler daraufhin mit der Bäuerin, die lange nicht verkaufen wollte. Für eine nachträgliche Genehmigung verlangte die Gemeinde zudem, dass die Anwohner selbst Wasserleitungen und einen Kanal legten sowie eine Zufahrtsstraße. Übrigens machte sie das nicht nur in dieser Siedlung zur Bedingung, auch in anderen Baugebieten, wie der Stampfl-Siedlung, der Königs-Siedlung, am Bayernwerk oder der Schwarzhölzlstraße. Eben überall, wo mitten im Acker Häuser gebaut wurden.

Wie sehr die Siedlungen verstreut waren, zeigt eine Karte von 1952 sehr eindrucksvoll. Die Gemeinde hatte keine Chance, Einfluss darauf, wo gebaut wurde. Sie besaß ja kein Land. "Und so sind bis heute noch Lücken da, und wir reden noch immer vom Brückenschlag", sagt Pajung.

"Nur in zwei oder drei Fällen erteilte das Landratsamt übrigens eine Abrissverfügung", erzählt der Hobbyhistoriker. Bei der gigantischen Flut an Schwarzbauten ist das erstaunlich - speziell aus heutiger Sicht. "Meist wurden die Häuser gegen eine Strafe von 100 Mark toleriert, denn bei einem Abriss wurden die Bewohner obdachlos, und die Gemeinde wäre verpflichtet gewesen, eine Ersatzwohnung zu stellen", erklärt Pajung.

Die fünfziger Jahre

An den verschiedensten Stellen im Ort entstanden Siedlungen, das zeigt eineKarte von 1952, viele waren schwarz gebaut worden. Repro: Niels P. Jørgensen

Je mehr Leute nach Karlsfeld zogen, umso größer wurde auch das Bedürfnis nach Läden. Die 16 Bauern, die anfangs entlang der Münchner Straße lebten, konnten sich noch selbst versorgen, doch die neuen Einwohner nicht. Und so machte bald ein so genannter "Freiwählladen" auf, Friseur, Drogerie, Schuhmacher und Möbelgeschäft folgten. Auch Schule, Rathaus, Kirche und Friedhof fehlten anfangs. 1952 wurde Sankt Anna eingeweiht, 1956 die Friedhofskapelle. Zur gleichen Zeit bekam Karlsfeld auch ein eigenes Kino. Der Ort begann zu prosperieren.

In der Ausstellung werden übrigens auch typische Alltagsgegenstände der Fünfzigerjahre gezeigt: Kleider, Sessel, Kommoden und Fernseher. Bis 1955 gab es in weiten Teilen Karlsfelds noch immer keinen Strom, so Pajung. Und so hatten 1957 gerade mal 300 Familien einen Fernseher. Das Bild war eher schemenhaft - und natürlich schwarz-weiß. Die erste Schule wurde 1962 gebaut. Bis dahin mussten die Karlsfelder Kinder nach Ludwigsfeld, Eschenried oder Dachau zum Unterricht laufen - also ziemlich weit.

Die Sonderausstellung "Alles wächst! Bauboom im Karlsfeld der 1950er Jahre" ist bis zum 21. April im Heimatmuseum (Gartenstraße 6) zu sehen. Sie hat immer am ersten und dritten Sonntag im Monat geöffnet, jeweils von 14 bis 17 Uhr.

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