Heimatgeschichte:Als Dachau nach Malzkaffee roch

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Gästeführerin Brigitte Fiedler führt an Orte der Industriegeschichte. Viel ist nicht mehr zu sehen

Von Jana Rick, Dachau

"Eigentlich darf man als Gästeführerin keine Sachen erzählen, die man nicht sieht". Mit diesen Worten beginnt Gästeführerin Brigitte Fiedler den Themenrundgang in Dachau. Doch ihr wird bei dieser Führung nichts anderes übrig bleiben, als den 16 Teilnehmern trotzdem möglichst viel zu erzählen von Dingen, die man heute nicht mehr vor Augen hat. Es soll um die Industriegeschichte Dachaus gehen, die viele Jahre zurück liegt und dennoch umfangreicher war, als viele Dachauer es heute im Kopf haben. "Wenn ich Ihnen heute die gesamte Industriegeschichte Dachaus zeigen würde, dann müssten wir mindestens einen Tagesausflug machen", lacht Fiedler. Deswegen beschränkt sie sich bei der Führung auf die Umgebung der Münchner Straße. Sie möchte "einen Bogen spannen". Einen Bogen zwischen dem, was die Stadt prägte, zwischen längst Vergangenem und Spuren, die heute noch zu sehen sind.

Nicht mehr zu sehen ist zum Beispiel die alte Sägemühle, die 1810 von einem Herrn Ruf am Mühlbach in der heutigen Brunngartnerstraße errichtet wurde. Sie wurde später umgebaut zur ersten Papiermühle Dachaus, die "Paun'sche Papiermühle", wie sie auch genannt wurde. Hier wurden Lumpen zu einem Papierbrei gestampft, die Papiermaschinen liefen Tag und Nacht durchgehend. Fiedler spricht von einer "enormen Lärmbelästigung" für alle damaligen Anwohner. Heute hört man nur noch ganz leise das Rauschen des Mühlbachs, die rotierenden Maschinen und das ratternde Mühlrad sind verstummt. Im Jahr 1859 wurde die Papiermühle dann vom Ingenieur Gustav Medicus gekauft, er erweiterte die "obere Fabrik", die 1861 sogar einen Brand überstand.

Die Belegschaft der ehemaligen Wurst- und Fleischfabrik Wülfert. (Foto: Toni Heigl)

So wurde der erste Meilenstein für die wohl bekannteste Fabrik Dachaus gelegt: Die MD- Papierfabrik. Die Teilnehmer von Fiedlers Gruppe nicken mit den Köpfen, die meisten von ihnen sind Dachauer, die Papierfabrik ist Teil ihrer Stadtgeschichte. Was viele jedoch nicht wussten, ist, dass die Brunngartnerstraße bis in die Dreißigerjahre "Fabrikstraße" hieß. Neu ist für die meisten auch, dass der ehemalige Maschinenraum nach Stilllegung der Papiermühle zu einer Turnhalle umgebaut wurde, die 1932 eröffnet wurde. Während des Nationalsozialismus wurde die ehemalige Fabrik zum Ausbildungsort umfunktioniert und gehörte zum Reichsarbeitsdienst. Heute ist das Gebäude in Privatbesitz, hohe Baugerüste stehen zur Renovierung an den Mauern. Die Dachauer Tafel ist in einem Teil des Gebäudes untergebracht. So endete die Papiergeschichte an diesem Ort.

Fiedler führt die Gruppe weiter entlang des Mühlbachs. Unterhalb der Altstadt wurde hier 1871 die Steinmühle gebaut. Nur noch der Straßenname selbst erinnert an diese Zeit: Der Steinmühlweg. Hier entstanden um 1870 auch 19 Badehütten, in denen sich die Arbeiter waschen konnten. Von den Hütten ist heute nichts mehr zu sehen. Dafür rauschen die Autos an der Straße entlang, sodass man Brigitte Fiedler fast nicht mehr verstehen kann.

Ein Blick nach oben, Richtung Altstadt, verrät den zweiten Teil der Industriegeschichte, die Fiedler heute erzählen möchte. Dort sind edle Neubauten zu sehen, mit grauen Balkons. Natürlich war das nicht immer so. "Nun muss ich Ihre Fantasie wieder schwer in Anspruch nehmen", sagt die Gästeführerin. Damit dies etwas leichter fällt, teilt sie süße Malzbonbons aus. Wenn man schon die ehemalige Malzfabrik, die von den 1870er Jahren bis vor dem ersten Weltkrieg dort oben am Hang stand, nicht sehen kann, dann solle man wenigstens den Geschmack des Malzes auf der Zunge spüren. Damals ließen sich die zwei Hörhammer Brüder von ihrer Mutter Geld für das Grundstück geben und entwickelten daraus einen der größten Gerstenmalzzulieferer Dachaus.

Dort wurde von 1935 an Wurst produziert. (Foto: Toni Heigl)

Vor allem während des Ersten Weltkrieges erlebte die Fabrik eine Hochkonjunktur, als sie für die Soldaten den sogenannten Ersatzkaffee in Massen herstellten. "In diesen Jahren hat sich ein sehr penetranter Geruch von Malzkaffee über der Stadt verbreitet", erzählt Fiedler lebhaft. Die meisten Dachauer kennen die ehemalige Malzfabrik nur noch als Zementruine der Koschade-Klinik, die als nächstes an diesem Ort errichtet wurde. Von der Malzfabrik zur Geburtenklinik - eine etwas ungewöhnliche Entwicklung, für die ein Arzt aus Schwabhausen verantwortlich ist: 1928 kaufte er das Gebäude und ließ dort Krankenbetten errichten. Nun werden in das ehemalige Krankenhaus bald Familien einziehen und den Blick Richtung München genießen. Fiedler verrät, dass zumindest einige Spuren der Malzfabrik geblieben sind: Der Dachauer Künstler Carl Thiemann verbaute Steine des Fabrikgebäudes in sein kleines Künstlerhaus in der Hermann-Stockmann-Straße, in dem auch heute noch eine Künstlerin lebt.

Die nächste Station des Streifzuges durch die Dachauer Industriegeschichte bringt die Gruppe in die Schleißheimerstraße, Ecke Zur Alten Schießstatt. Denn was viele nicht wussten: Dachau war einige Zeit lang auch für seine Wurstproduktion bekannt. Wo früher die "Alte Schießstätte" stand, errichtete Johann Wülfert 1922 eine Fleischfabrik, die zehn Jahre später sogar die viertgrößte Bayerns war. Die Fleischfabrik Wülfert beschäftigte eine Zeit lang mehr als 300 KZ-Häftlinge, von denen gesagt wurde, dass sie sich dort wohl fühlten, da sie von Wülfert zusätzliche Essensrationen bekamen. Auf einem Foto zeigt Fiedler die Fleischmassen, die in der Wurstfabrik verarbeitet wurden. Blickt man heute auf das Wohnhaus, das noch geblieben ist, kann man sich die Produktion nur schwer vorstellen. Apfelbäume stehen in dem Garten, die Vorhänge hinter den Fenstern wehen im Wind. Dort, wo einst die Schlachthallen waren, steht heute einen Supermarkt. Die heute 76-jährige Heike Sohnemann, die seit 1965 in Dachau lebt, kann sich noch an die damalige Zeit erinnern. Zwar nicht an Wülfert, aber an die Firma Schweisfurth Herta, welche die Fleischfabrik 1954 aufkaufte und dann mit dem Betrieb nach Dachau Ost zog.

Der Produktionsstandort, den einst Johann Wülfert gründete, lag neben dem heutigen Supermarkt an der Schleißheimer Straße. (Foto: Toni Heigl)

Die eineinhalbstündige Führung endet am Mühlbach, von dem aus man Teile der ehemaligen Papierfabrik sehen kann. Ein massives graues Fabrikgebäude, heute ungenutzt und nicht begehbar. Am 23. Juni 2007 wurde dort die letzte Maschine eingestellt, einige davon stehen heute in Indien und laufen dort weiter. Heike Sohnemann erinnert sich an den Tag als ihr Nachbar, damaliger Arbeiter der MD-Papierfabrik, entlassen wurde. Heute ist er über 90 Jahre alt.

Zum Abschluss betont Fiedler noch einmal, dass die Industriegeschichte Dachaus durchaus viel zu bieten hat: Da wären noch die Pulver- und Munitionsfabrik, die zwei Jahre lang in Betrieb war, die Kleiderfabriken und Schneidereien und die Firma Schuster. Sie alle prägten die Industrie der Stadt. Heute gibt es kaum noch verarbeitendes Gewerbe Dachau. Fast schon ein wenig traurig sagt die Gästeführerin: "Neben ein paar wenigen großen Gewerben sind wir heute vor allem eine Pendlerstadt zu München geworden." Doch mit einem Blick zur alten Papierfabrik fügt sie hinzu: "Aber die Zukunft ist offen."

Auf dem Gelände steht heute ein Supermarkt. Im Innenhof haben sich nur die Automodelle verändert. (Foto: Toni Heigl)

2016 machte der Bezirk Oberbayern den Vorschlag, das MD-Gelände zu einer Museumslandschaft umzubauen und dort ein "Museum für Industrie- und Arbeiterkultur" zu errichten. Noch hängt diese Planung allerdings in der Luft, die Verhandlungen laufen. Für Fiedler wäre es eine "Herzensangelegenheit", die Dachauer Industriegeschichte dort den Menschen näher zu bringen. "Vielleicht kann ich Sie ja irgendwann mal durchs neue Museum führen", beendet sie lächelnd ihren Rundgang. Sie möchte die Geschichte Dachaus "nicht ganz vergessen lassen". Damit auch das, was heute nicht mehr direkt zu sehen ist, in den Erinnerungen der Dachauer bleibt.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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