Süddeutsche Zeitung

Beerdigung von Rose Kraus:Ein Leben für die Armen und Verfolgten

Die mit 84 Jahren verstorbene Dachauerin Rose Kraus war eine Ausnahmeerscheinung: Wegbegleiter, Freunde, Geflüchtete nehmen Abschied von einer Frau, die Zivilcourage zeigte.

Von Walter Gierlich, Bergkirchen

Wegen Corona ist in diesem Jahr alles anders, auch Beerdigungen. So hat es länger als ein halbes Jahr gedauert, bis die am 17. März wenige Wochen vor ihrem 85. Geburtstag verstorbene Rose Kraus endlich in einem würdigen und angemessenen Rahmen bestattet werden kann. Hätten im Frühjahr nur die engsten Familienangehörigen teilnehmen dürfen, so können jetzt auch zahlreiche Wegbegleiter, Freunde, Geflüchtete aus dem Iran und afrikanischen Ländern sowie Mitstreiter aus dem einst von ihr gegründeten Arbeitskreis Asyl sowie aus der Friedens- und Umweltbewegung von Rose Kraus Abschied nehmen. Und die Besucher der Trauerfeier auf dem Gündinger Friedhof sind sich am Ende einig, dass sie eine berührende Veranstaltung erlebt haben.

200 Stühle sind auf einer Wiese mitten auf dem Dorffriedhof neben der Kirche Sankt Vitus aufgestellt, die Besucher, die Mund-Nasen-Schutz tragen, werden am Eingang auf einer Liste abgehakt, danach zu ihren Plätzen geführt. Abstandsregeln werden dabei eingehalten. Noch probt der Gündinger Singkreis, von Rose Kraus vor Jahrzehnten gegründet, ein letztes Mal, trägt der irische Sänger Derek O'Reilly Bob Dylans "The Times They Are A-changin'" vor, während sich nach und nach alle Plätze füllen. Junge Bläser der Münchner Rudolf-Steiner-Schule, an der Walter Kraus, ein Sohn der Verstorbenen unterrichtet, eröffnen mit einem Bach-Choral die ökumenische Trauerfeier, die der evangelische Kirchenrat Björn Mensing und die katholische Pastoralreferentin Susanne Deininger gestalten.

Rose Kraus wünschte sich einen konfessionsüberfgreifenden Gottesdienst

Dieser konfessionsübergreifende Gottesdienst ist, wie Mensing bei der Begrüßung erklärt, der ausdrückliche Wunsch von Rose Kraus gewesen, die zwar der katholischen Kirche angehörte, aber in den vergangenen Jahrzehnten sonntags regelmäßig die Gottesdienste der evangelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte Dachau besuchte. Rose Kraus sei mit so vielen Menschen vernetzt gewesen, dass man meine, "sie noch einmal in unserer Mitte zu spüren", sagt Deininger. Und noch deutlicher erinnert alles an die streitbare Flüchtlingshelferin, als Mensing vor seiner Ansprache aus der Bergpredigt zitiert: "Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich." Da habe man Rose vor Augen, als wenn da ihr Leben seliggepriesen werde, meint der Geistliche, und findet damit die Zustimmung aller Anwesenden.

Dabei sei ihr das "nicht in die Wiege gelegt worden, denn ihr Anfang war alles andere als leicht", betont er. Sie ist als älteste von sieben Geschwistern am 8. Mai 1935 viel zu früh auf die Welt gekommen, so dass die Hebamme meinte, sie werde die erste Nacht nicht überleben. Doch sie schaffte es, wuchs mitten in der Dachauer Altstadt auf, wo ihr Vater eine Schmiede betrieb. In der großen Familie gab es viel zu tun, auch für Rose. Genau an ihrem zehnten Geburtstag, am 8. Mai 1945, schickte ihre Mutter sie zum Milchholen. Sie lief die Augsburger Straße in Dachau entlang, als ihr ein Pferdefuhrwerk entgegenkam, auf dessen Ladefläche nackte Tote gestapelt waren. Es waren Leichen aus dem Konzentrationslager, die zu einem Massengrab gebracht wurden. "Das war prägend für ihr weiteres Leben, dass so etwas nie wieder passieren darf", betont Mensing.

Mit 16 Jahren ging Rose Kraus nach München, machte eine Lehre als Kontoristin und arbeitete anschließend in verschiedenen Bürojobs. Beim Tanzen lernte sie ihren späteren Mann Walter kennen, dessen Familie aus dem Riesengebirge nach Bayern geflüchtet war und ganz und gar nicht freundlich aufgenommen wurde. 1958 heirateten die beiden, die drei Kinder bekamen: Stefan, Walter und Michaela. Zunächst stand die eigene Familie im Mittelpunkt. Nur als die Kinder klein waren, blieb Rose Kraus einige Jahre zu Hause, dann musste sie wieder Geld verdienen. Die Wohnung in München war zu klein geworden, die Familie baute ein Haus in Günding, das finanziert werden musste.

Doch mit Mitte 40 nahm ihr Leben noch einmal eine Wende: Sie sah in den Nachrichten Flüchtlinge aus Vietnam, vom Schiff Cap Anamur aus überfüllten Booten im Meer aufgefischt. Die Fernsehbilder zeigten frierende Menschen am Flughafen München-Riem. Rose Kraus fackelte nicht lange, machte ausfindig, wo die Geflüchteten untergebracht waren und machte sich mit Decken und warmer Kleidung auf den Weg, um ihnen zu helfen.

"Als die Kräfte nachließen, war es für sie das Schwierigste, dass sie nicht mehr helfen konnte"

Damit begann ihr Einsatz für Menschen, die ihre Heimat wegen politischer Verfolgung, Gewalt oder Hunger verlassen mussten. Als 1986 Asylsuchende vor allem aus dem Iran und aus Polen in den Landkreis Dachau kamen, half Rose Kraus und gründete mit Mitstreiterinnen den heute noch aktiven Arbeitskreis Asyl. Doch, so Mensing, setzte sie sich auch für Frieden und die Umwelt ein, nahm an Blockaden von US-Militäreinrichtungen in Mutlangen teil und demonstrierte gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Und noch eine Anekdote die zeigt, dass ihr Widerstandsgeist auch im Alter von 78 Jahren nicht gebrochen war, erzählt Mensing: Sie begleitete mit einigen Mitstreitern im September 2013 einen Protestzug von Asylbewerbern ein Stück deren Weges von Würzburg nach München. Dabei habe sie sogar ihr Bundesverdienstkreuz getragen, das ihr 2005 verliehen worden war. Als die Polizei die Demonstranten martialisch eingekesselt und die Begleiter wegführte, blieb Rose Kraus als einzige einfach stehen: "Sie geht einfach nicht, die Polizisten können nichts ausrichten. Rose ist für mich und für viele hier zum Vorbild geworden mit ihrer Widerstandskraft." Doch der Kirchenrat ruft auch die letzten Monate ihres Lebens noch einmal ins Gedächtnis: "Als die Kräfte nachließen, war es für sie das Schwierigste, dass sie nicht mehr helfen konnte."

Pastoralreferentin Deininger bittet nun zunächst die Familienangehörigen ans Grab, in dem auch der verstorbene Ehemann begraben liegt, um Abschied zu nehmen. Ehe die große Trauergemeinde - wieder unter Einhaltung der Abstandsregeln - sich an Roses letzter Ruhestätte noch einmal verneigt, wendet sich der älteste Enkelsohn Markus Kraus mit bewegenden Worten direkt an die "liebe Oma". Er habe sie kein einziges Mal böse erlebt, habe sie bewundert, "wie du immer für die Armen und Verfolgten gekämpft hast". Er habe sich gefragt, woher sie die Energie nimmt und findet die Antwort in dem Lebensmotto seiner Großmutter: "Wenn man anderen Liebe entgegenbringt, bekommt man Liebe zurück, die einem die Kraft gibt, weiterzumachen."

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Quelle:
SZ vom 05.10.2020
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