Evelyn Höchstetter ist ein Mädchen wie jedes andere. Sie trifft sich gerne mit Freunden, kann Mathe nicht leiden und schafft es oft, ihren Vater mit großen braunen Augen zu erweichen, wenn er ihr einen Wunsch erfüllen soll. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen ihr und den anderen Kindern in der Grundschule Augustenfeld: Evelyn sitzt im Rollstuhl. Die Neunjährige leidet unter einer seltenen Muskelerkrankung, die ihr das Gehen unmöglich macht.
Früher besuchte sie die Ernst-Barlach-Schule in München. Diese gehört zur Stiftung der Pfennigparade, ist also auf Kinder mit Behinderung spezialisiert. Doch gute Ausstattung und erfahrene Pädagogen verlangten ihren Preis. Evelyn musste sehr früh aufstehen und lange Fahrtwege auf sich nehmen, da das Einzugsgebiet der Förderschule sehr groß ist: "Da wollte ich mal etwas anderes ausprobieren".
In Bayern wurde mit der Reform des Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen im Jahr 2003 der Zugang zur allgemeinen Schule für die meisten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf rechtlich ermöglicht. "Damals war die Thematik noch nicht so sehr in der Diskussion wie heute", berichtet Blasius Thätter, pensionierter Sonderschullehrer und zu der Zeit Landtagsabgeordneter. "Die Regelschulen waren noch nicht so gut vorbereitet."
Jörg Höchstetter hat sich sehr für den Schulwechsel seiner Tochter eingesetzt. Sobald Evelyn ihren Wunsch geäußert hatte, fing er an zu planen: Er suchte das Gespräch mit der Stadt, Schulleitung und Lehrern, arrangierte einen einwöchigen Probeunterricht mit zwei festen Schulbetreuern von der Caritas und baute den Kontakt zwischen alten und neuen Lehren auf. "Die Schule hat uns mit offenen Armen aufgenommen", betont er. Allerdings hätte er sich nicht nur von der Schule, sondern auch Unterstützung für die Schule gewünscht. Zwar wurden anfallende Neuanschaffungen wie eine therapeutische Liege ohne Verzögerungen von der Stadt genehmigt, doch auch die Lehrer standen vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung. "Was mir sehr geholfen hat, war das von Herr Höchstetter vermittelte Gespräch mit Evelyns ehemaligem Lehrer", erzählt die Klassenlehrerin Christina Berchtenbreiter. "Er konnte mir viele Tipps geben, was mir den Unterricht sehr viel leichter gemacht hat. Ich wüsste nicht, wen ich sonst hätte fragen können."
Dies soll sich nach dem neuen Gesetzesentwurf zur Inklusion an Regelschulen, der am 28. März im Landtag vorgestellt wurde, bald ändern. Für einzelne Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen, so wie Evelyn eines ist, soll ein sogenannter mobiler sonderpädagogischer Dienst ausgebaut werden. Der Doppelhaushalt 2012/2013 sieht vor, mindestens 100 weitere Lehrkräfte mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik zu beschäftigen, die in den Schulen beraten und weiterbilden.
Auch bereits etablierte Formen der Inklusion wie Kooperationsklassen an Volksschulen und Partnerklassen in Förderschulen sollen weiter entwickelt werden. Ganz neuartig ist das Schulprofil Inklusion. Dabei können Schulen Vorreiter beim gemeinsamen Lernen werden. Wenn eine Schule als gastschulfähig gilt und den Bedürfnissen der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im besonderen Maße Rechnung trägt, darf sie sich in Übereinstimmung mit dem Schulaufwandsträger und der zuständigen Schulaufsichtsbehörde dieses Profil auf die Fahne schreiben.
Vielleicht wird sogar die Grundschule Augustenfeld einmal zur offiziellen Inklusionsschule. Evelyn sei eine "große Bereicherung", so Direktorin Helga Schiller. "Wir sind in dieser Situation selber Lernende." Wichtig ist ihrer Ansicht nach vor allem eine gute Kommunikation - sowohl mit den Eltern als auch mit den Lehrern: "Man muss von sich aus die Initiative ergreifen. Wird etwas von oben herab aufgedrückt, kann das nicht funktionieren. Als Lehrer muss ich mir die Frage stellen: Traue ich mir das selbst zu? Unsere Antwort war ja".
Mittlerweile haben nicht nur die Lehrer ihre anfängliche Tendenz zur Überfürsorglichkeit abgelegt. Auch Evelyns Mitschüler betrachten sie nach drei Monaten als eine von ihnen. Sie fanden nach und nach immer kreativere Methoden, um das Mädchen in ihre Spiele auf dem Pausenhof zu integrieren. Der Klassenlehrerin fallen viele Anekdoten ein: "Wir haben auf dem Gelände viele Spielgeräte, darunter auch ein Tunnel, durch den eines Tages alle gelaufen sind. Auf den ersten Blick hätte der Rollstuhl nie dort hindurch gepasst. Dann sind die Kinder darauf gekommen, dass man den Sitz ein Stück herunter lassen kann. So konnte sie den Tunnel schließlich auch passieren. Das wäre mir nie eingefallen."
Evelyns mutiger Schulwechsel soll kein Ausnahmefall bleiben. Sigrun Tausch vom Dachauer Caritas Zentrum berichtet, dass immer mehr Schüler mit Förderbedarf die Hilfe der Schulbegleiter an Regelschulen in Anspruch nehmen. "Mit Evelyn sind es acht Schüler an allgemeinen Schulen im Landkreis, die von uns betreut werden", erzählt sie. "Das war ein enormer Anstieg in den vergangenen zwei Jahren".
Während nach der alten Regelung noch eine aktive Teilnahme am Unterricht die Grundvoraussetzung für einen Regelschulbesuch ist, soll diese Entscheidung künftig gänzlich in der Hand der Eltern liegen. "Natürlich gibt es gewisse Grenzen, wie zum Beispiel bei der Gefährdung des Kindeswohls oder einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung für den Schulaufwandsträger", teilt Marie Brunner, Sprecherin des bayerischen Kulturministeriums, mit. "Doch grundsätzlich soll Inklusion an allen Schulen statt finden."