Süddeutsche Zeitung

Gesundheitsamt Dachau:"Wir versinken in Beschwerden"

Die großen Diskrepanzen bei den Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts und des Landkreises sorgen für Empörung

Von Sophie Kobel, Dachau

Rund 400 Gesundheitsämter gibt es in Deutschland. Unter Dauerstress stehen sie seit Beginn der Covid-19-Pandemie alle. Doch die Methoden, mit Hilfe derer sie Daten aufnehmen und weiterverarbeiten, unterscheiden sich teilweise extrem. Klare Anweisungen von Bundesebene gab es bisher nicht. Das soll sich jetzt ändern: Bis Ende des Jahres sollen die Gesundheitsämter bayernweit auf das digitale Programm "Sormas" zum Pandemiemanagement und zur Kontaktnachverfolgung umsteigen. Das wurde in der Kabinettssitzung vom 6. Dezember beschlossen.

Bei vielen Bürgern sorgten die stark differierenden Zahlen für große Verwirrung. Besonders in Dachau war das der Fall. Das dortige Gesundheitsamt erhebt die Zahlen mit einem eigens entwickelten System auf Basis von Microsoft Access. Daher kamen die großen Unterschiede zu denen vom Robert-Koch-Institut (RKI) zustande. Anfang Dezember etwa lag der selbst ermittelte Inzidenzwert des Landkreises bei über 220, der des RKIs bei etwa 170. Viele Bürger waren empört, denn mit dem Überschreiten des Inzidenzwertes von 200 verschärften sich die Maßnahmen, die eine rasante Ausbreitung des Coronavirus verhindern sollen.

Jetzt werden die vom Landratsamt errechneten Werte nicht mehr veröffentlicht, nur noch die Zahlen des RKI. Außerdem erklärt der Sprecher des Landratsamts Wolfgang Reichelt, "haben wir den Inzidenzwert von der Website genommen, weil unsere Zahlen nicht maßgebend für Entscheidungen über neue Corona-Maßnahmen sind." Schwer gefallen sei diese Entscheidung nicht: "Wir versinken in Beschwerden von Bürgern", sagt er. "Wir arbeiten mit zwei Systemen. Das eine ist unser eigenes, mit dem wir intern Daten zur Ermittlung des Inzidenzwertes erheben. Das andere ist ISGA (InformationsSystem GesundheitsAmt), hiermit teilen wir täglich unsere errechneten Werte mit dem RKI und dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit", so Reichelt. Dass die übermittelten Informationen sich in den vom RKI errechneten Zahlen nicht widerspiegeln, könne man weder ändern noch wirklich nachvollziehen.

"Das RKI hat bis diesen Herbst mit den Einwohnerzahlen vom Dezember 2018 gerechnet, und auch danach waren nur die Werte vom Dezember 2019 auf Bundesebene verfügbar. Wir haben lange Zeit mit unseren eigenen Zählungen vom Juni 2020 gearbeitet. Das war eine andere Grundlage, um Rückschlüsse zu ziehen". Inzwischen sei das lokale Amt ebenfalls auf die Berechnung mit Werten aus 2019 umgestiegen, die Diskrepanzen blieben jedoch.

Mit dem Einführen der Software Sormas auf Bundesebene sollen solche Fälle vergleichbarer gemacht und Arbeitsschritte vereinfacht werden. Dieser Schritt hätte schon früher gemacht werden können, denn die deutsche Software ist keine Neuheit. Bereits seit Beginn der Pandemie steht eine vereinfachte Version von Sormas für Gesundheitsämter kostenlos zur Verfügung. Andere Länder wie Nigeria, Ghana, Fidschi, Frankreich und die Schweiz verwenden das Computerprogramm schon seit längerem, um ihre Infektionsketten nachzuvollziehen. In Deutschland hingegen nutzen bisher lediglich 76 der insgesamt 400 Gesundheitsämter die Software. Über den abrupten Umstieg mitten in einer Zeit der Corona-Höchstwerte sind viele Ämter entsetzt, bedeutet es eine zusätzliche Belastung für das ohnehin überforderte Personal.

Im vergangenen Sommer wäre dafür mehr Zeit gewesen, doch auch das Landratsamt Dachau dachte zu dieser Zeit nicht über einen Wechsel der Software nach. "Wir haben ein funktionsfähiges System zur Datenübertragung. Zwar kennen wir uns mit Sormas noch nicht wirklich aus, allerdings erleichtert es ja nur die Kommunikation zwischen Gesundheitsamt und allem darüber. Die erste Hälfte, vom Patienten zum Arzt bis hin zu uns wird sich nicht groß verändern", ist sich Reichelt sicher. Genau das sei aber Teil der Arbeit, der die 80 Mitarbeiter des Gesundheitsamtes und des Contact Tracing Teams in Dachau an die Grenzen bringe. Die Verständigung mit den Ärzten und Laboren laufe immer noch viel über Faxgeräte, und anschließend beginne die telefonische Kontaktverfolgung. "An manchen Tagen haben wir 40 potenziell Infizierte, die mit jeweils 40 Personen Kontakt haben. Das sind die Abläufe, die Zeit und Kapazitäten fressen", sagt Reichelt.

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Quelle:
SZ vom 08.12.2020
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