Gespräch mit einer Zeitzeugin:Salzkartoffeln für den Dachau-Überlebenden

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Die Philosophin Ágnes Heller liest im Karmel-Kloster. Mit der Stadt verbindet sie eine frühe Kindheitserinnerung

Von Helmut Zeller, Dachau

Von Dachau hat die Philosophin Ágnes Heller schon als Sieben- oder Achtjährige gehört. Ihre Eltern hatten in ihrer Budapester Wohnung den Dachau-Überlebenden Jacob Brunner aufgenommen, bevor Hellers Vater ihm zur Flucht nach Brasilien verhalf. Ágnes wusste schon aus Gesprächen mit ihrem Vater, dass Hitler in Deutschland die Macht erlangt hatte und erfuhr nun, was das Konzentrationslager Dachau war. Am Donnerstag, 16. Februar, besucht die bedeutendste Philosophin der Gegenwart auf Einladung der Evangelischen Versöhnungskirche erstmals Dachau - und dieser Jacob Brunner, damals vermutlich ein Tarnname, wird vor ihrem geistigen Auge wieder Gestalt annehmen. Er verlangte immer nach Salzkartoffeln, angeblich seine Lieblingsspeise, dabei wollte er nur das Budget der Hellers schonen. Die Familie wunderte sich zwar, tat ihm aber den Gefallen, und die kleine Ágnes musste wochenlang Salzkartoffeln essen.

Im Karmel-Kloster an der KZ-Gedenkstätte wird die ungarisch-jüdische Philosophin, 87, über "Die Welt der Vorurteile - Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches" lesen und mit dem Publikum diskutieren. Das Buch versammelt eine Reihe der letzten Vorlesungen der Philosophin, die in ihrem umfangreichen geschichts- und moralphilosophischen Lebenswerk eine Antwort auf die Frage nach dem Warum von Auschwitz gesucht hat. Ágnes Heller entkam als 15-Jährige nur knapp der Erschießung durch die ungarischen Pfeilkreuzler in Budapest, antisemitische Faschisten, die mit Deutschland gemeinsame Sache machten. Sie überstand die Nationalsozialisten und - später - die Verfolgung durch die Kommunisten. Die Partei schloss sie aus, nachdem sie am Ungarn-Aufstand von 1956 beteiligt war. Die György-Lukács-Schülerin begründete später die Budapester Schule mit, die zunächst das Sowjet-System reformieren wollte und sich dann komplett davon abwandte. Nach erneutem Berufsverbot emigrierte Ágnes Heller nach Australien und ging schließlich nach New York als Nachfolgerin von Hannah Arendt auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research.

Ágnes Heller hat sich wie ihre Philosophenfreunde Jürgen Habermas oder Jacques Derrida immer in die Politik eingemischt. Sie zählt zu den schärfsten Kritikern des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, seines europafeindlichen Populismus und seiner Flüchtlingspolitik. Im Karmel-Kloster spielt das Kammermusikensemble des Ignaz-Taschner-Gymnasiums unter der Leitung von Jutta Wörther Werke von Michael Praetorius, Georg Philipp Telemann und Antonio Vivaldi. Ágnes Heller liebt klassische Musik.

Das und ihr unabhängiges Denken hat sie von ihrem Vater. Er rettete viele jüdischen Flüchtlinge und wurde selbst nach Auschwitz deportiert. Er ist nicht mehr zurückgekehrt.

© SZ vom 11.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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