Süddeutsche Zeitung

Geplante Erstaufführung in Dachau:Die Gesänge der Verstummten

Seit den Achtzigerjahren sammelt Francesco Lotoro unbekannte musikalische Werke von KZ-Häftlingen. Mit Unterstützung der Stadt erforscht er auch das Schicksal von zwei komponierenden Insassen des Lagers in Dachau

Von Viktoria Großmann, Dachau

Die Musik, sagt Francesco Lotoro, ist wie der Wind, so frei. Sie kann nicht eingesperrt werden, sie überwindet Mauern und Stacheldrahtzäune. Francesco Lotoro ist ein Musiker und ein Sammler. In den Achtzigerjahren beschäftigte sich der heute 53-Jährige das erste Mal mit Musik, die in einem Konzentrationslager geschrieben wurde. Seither wurde die Suche nach dieser Musik und ihre Wiederaufführung zu seinem Lebenswerk. In Dachau hat er 2016 im Kloster Karmel Werke von KZ-Insassen dirigiert. Vielleicht wird Lotoro in zwei Jahren, wenn sich die Befreiung des Lagers zum 75. Mal jährt, neu entdeckte Werke aufführen können.

Es begann mit einem historischen Konzertprogramm aus Salzburg. Zehn Jahre nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland wollte die Stadt daran 1948 mit einem Konzert im Mozarteum erinnern. Auf dem Konzertprogramm standen "Gesänge aus Dachau" von Richard Böhm nach Texten von Johannes Janik. Doch wer waren diese Männer und was wurde aus ihnen? Ein langer Weg durch die Archive begann. Unterstützt wurde Lotoro in diesem Fall wesentlich von Tanja Jørgensen-Leuthner vom Dachauer Kulturamt. Nach dem die Deutsch-Italienerin vor Jahren eine Fernsehdokumentation über Lotoro gesehen hatte, verfolgte sie sein Schaffen, nahm Kontakt auf und holte ihn schließlich für ein Konzert nach Dachau. Die Stadt Dachau unterstützt offiziell die Stiftung, die für Lotoros Musikarchiv gegründet wurde. Zwar gibt die Stadt kein Geld, aber sie hilft, wo sie kann. Etwa bei intensiven Recherchen wie diesen.

Die Suche nach einem Unbekannten ist mehr als Akten zu wälzen. Anfangs weiß man gar nicht, ob es überhaupt welche gibt und wo diese sind. Wo hat jemand zuletzt gelebt? Wer erinnert sich an ihn? Gibt es ein Grab? Wer pflegt es? Die Recherche war erfolgreich: Gelebt hat Böhm von 1903 bis 1973. Und er war kein hauptberuflicher Musiker. Sondern Polizist. Als Kommissar in Wien nahm er vier SS-Leute fest, die an einer Schlägerei beteiligt waren. Ein Grund, ihn ins Konzentrationslager Dachau zu deportieren. Dort blieb er bis etwa 1943, dann wurde er gezwungen, in den Krieg an die Ostfront zu ziehen. Böhm geriet in russische Gefangenschaft, konnte aber nach dem Krieg wieder in Wien als Polizist arbeiten, wo er sich besonders für die Entnazifizierung engagiert haben soll. Er wurde später sogar Ministerialrat.

Was fehlt, sind die Noten. Vier Lieder hat das Recherche-Duo ausfindig gemacht. Nur von einem haben sie auch Noten. Wie viele es insgesamt sind, können sie nicht sicher sagen. "Aus tiefster Not!" heißt jenes von Böhm selbst signierte Manuskript, das er offenbar nach seinen Erinnerungen nach dem Krieg sauber aufgeschrieben hat. "Im Marschtempo" hat Böhm dazu notiert. In den Texten Janiks geht es etwa um die harte Zwangsarbeit im Kräutergarten. Da sie keinerlei Nachkommen oder Erben von Richard Böhm ausfindig machen konnten, hoffen Jørgensen-Leuthner und Lotoro nun auf Nachkommen von Johannes Janik. Eine Spur führt nach Augsburg. Nebenbei ist Lotoro im einem Berliner Archiv auf einen zweiten Mann gestoßen, der in der Lagerhaft in Dachau komponiert hat: Leon Kaczmarek. Doch hier steht Lotoro noch ganz am Anfang seiner Recherche.

In Italien und zunehmend in Frankreich und Israel ist Lotoro mittlerweile eine Berühmtheit. Im April wird er zum 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung das Konzert des nationalen Jugendorchesters dirigieren. Einmal, als er gerade in Israel probte, rief ihn der Regisseur Jack Garfein an - eine Filmgröße der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Garfein hatte als Teenager Zwangsarbeit und Lagerhaft in Auschwitz überlebt. Und er wusste von Liedern, die dort entstanden waren. Garfein flog nach Apulien und wartete, bis der Musiker nach Hause kam. Dann sang der alte Mann dem Musiker die Lieder vor, an die er sich erinnerte. Es gebe kein familiäres Schicksal, das ihn zu seinem Lebensthema gebracht habe, sagt Lotoro. Väterlicherseits habe er jüdische Vorfahren. Er selbst ist zum Judentum konvertiert. Er will, so sagt er, den Häftlingen ihre Stimme zurückgeben.

Längst sammelt Lotoro nicht mehr nur Noten, die in Konzentrationslagern geschrieben wurden, sondern er hat sich der Musik aus allen Gefangenenlagern, die zwischen 1933 und 1953 existierten, weltweit verschrieben. 1933 nahmen die Nationalsozialisten das Konzentrationslager Dachau in Betrieb. 1953 starb Josef Stalin. Unter Lotoros Leitung sind bereits 24 CDs mit Einspielungen dieser Lager-Musik entstanden. In seiner Heimatstadt Barletta in Süditalien legt er ein einzigartiges Archiv an. Rein aus Spenden finanziert wird ein ganzer Campus entstehen, unterstützt auch von der deutschen Robert-Bosch-Stiftung. Mit Bibliothek, Archiv, Studienräumen und natürlich einem Konzertsaal. Vielleicht wird sich Lotoro dann auch noch der Musik aus den Lagern der späteren Jahrzehnte annehmen. Zuzutrauen ist es ihm.

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SZ vom 29.03.2018
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