Ausstellungen über Künstlerkolonien hat es in der Gemäldegalerie Dachau schon zuhauf gegeben, für gewöhnlich wusste man schon vorher, was einen erwartet. Goldgerahmte Waldeinsamkeit in Öl, Wiesen und Wolkengebirge, mümmelnde Kühe. Und jetzt: Wuppertal. Eine Stahlbrücke überspannt ein Flussdelta aus Asphalt, Peitschenlaternen und mehrstöckige Wohngeschäftshäuser säumen die Straßen, man sieht ein paar Autos und vereinzelte Passanten, urbanes Panorama, anno 1961. Das Publikum staunt.
Die Bilder stammen aus der Künstlerkolonie Solingen, von der die meisten vermutlich noch nie etwas gehört haben. Entstanden ist sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Zeit der europäischen Künstlerkolonien schon lange vorbei war. Aber wie ihre Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert waren auch die Künstler aus Solingen viel unterwegs, um unter freiem Himmel zu malen, nicht nur im Bergischen Land. Man findet auch Motive jenseits von Wuppertal, im Schweizer Oberland, Augsburg und Venedig, Norwegen und Nepal. Präsentiert werden sie unter dem Titel „In der Welt unterwegs“.
Die Erwartungen an die neue Leiterin sind enorm
Es ist die erste Ausstellung der neuen Leiterin der Gemäldegalerie, Laura Cohen, an ihrer neuen Wirkungsstätte in Dachau. Entsprechend groß ist die Neugier, am Abend der Eröffnung sind alle Stuhlreihen besetzt, viele müssen stehen, auch Elisabeth Boser, die zuvor 35 Jahre lang diese Schatzkammer der Künstlerkolonie Dachau gehütet, gepflegt und erweitert hat. Als sie hier die Leitung übernahm, war Laura Cohen gerade mal vier. Was sich derzeit in der Gemäldegalerie Dachau vollzieht, ist also nicht nur ein Generationenwechsel, es ist auch der Beginn einer neuen Ära.
Laura Cohen bringt den Blick für die großen Zusammenhänge mit, sie hat für die Bayerische Staatsgemäldesammlung gearbeitet und am Aufbau des Jüdischen Museums in Köln mitgewirkt. Und sie ist, wie man so schön sagt, am Puls der Zeit. Bereits kurz nach ihrem Amtsantritt hat sie erklärt, dass sie in der Gemäldegalerie einiges anders machen wolle. In Form und Inhalt sollen die Ausstellungen moderner werden. Weniger Bilder, mehr Texte. Mehr Hintergrund über die Lebensumstände der Menschen zur damaligen Zeit. Mehr Anknüpfungspunkte zum Hier und Heute.
Weniger Bilder, mehr Kontext
In der aktuellen Ausstellung kann man besichtigen, wie das in der Praxis aussieht. Die gewohnte Bilderfülle ist etwas reduziert, die einzelnen Werken haben mehr Raum, zu wirken, das kommt gut an beim Publikum. „Eine wundervolle Ausstellung“, lautet einer der ersten Einträge im offen ausliegenden Gästebuch. Statt zwei Dutzend Künstlerinnen und Künstlern werden hier nur drei präsentiert, nämlich die wichtigsten der Solinger Kolonie: Erwin Bowien (1899–1972), Bettina Heinen-Ayech (1937–2020) und Amud Uwe Millies (1932–2008), von dem auch das eingangs erwähnte Wuppertal-Gemälde stammt.
Das Trio unternahm viele Malreisen zusammen. Obwohl Vertreter unterschiedlicher Generationen, waren sie einander persönlich eng verbunden. „Aber jeder hat seine eigene Ausdrucksweise“, sagt Laura Cohen. Man findet hier nicht nur Ölgemälde, sondern auch expressive Aquarellmalereien, zarte Pastellbilder, Zeichnungen, und natürlich eine enorme Vielfalt an Schauplätzen und Motiven, Stadtansichten, Landschaften und Porträts.
„Da ist nichts hinzugedichtet oder idealisiert“
Wie die Freilichtmaler des 19. Jahrhunderts gingen auch die Solinger Künstler nach draußen, um zu malen. Bettina Heinen-Ayech bevorzugte dabei offenbar die motorisierte Variante der Pleinair-Malerei. „Man sah sie häufig malend unter Bäumen sitzen oder mit ihrem Renault R4 durch die Landschaft fahren, den sie als mobiles Malatelier umgebaut hatte.“ So ist es im Katalog zur Ausstellung nachzulesen, auf Deutsch und auf Englisch; auch das ein Novum bei der Gemäldegalerie.
Die klassischen Künstlerkolonien des 19. Jahrhunderts entstanden als Reaktion auf die Industrialisierung. Die ländlichen Idyllen rund um die großen Städte wurden zu Sehnsuchtsorten, hier glaubten die Künstler, noch Refugien einer unverfälschten, urwüchsigen Natur zu finden. Wer Straßenkreuzungen in Wuppertal malt, gibt sich solchen Illusionen nicht mehr hin. Was die Solinger Künstler mit ihren Bildern schufen, waren Zeugnisse ihrer Zeit. „Sie hielten fest, was sie sahen“, sagt Laura Cohen. „Da ist nichts hinzugedichtet oder idealisiert.“
Das unterscheidet ihre Werke nicht nur von den alten Ölgemälden aus dem 19. Jahrhundert, es unterscheidet sie auch von den Urlaubsfotos, die heute im 21. Jahrhunderts die sozialen Netzwerke fluten. Die Künstler suchten keine Kulissen, vor denen sie sich in Pose warfen, hoppla, hier komm’ ich, sie suchten die Welt, um selbst Teil davon zu werden. Diese Haltung sieht man den Bildern an.
Erwin Bowien, der Urvater der Solinger Kolonie, hat fast immer und überall gemalt und gezeichnet. Kurz nach dem Krieg ist seine Serie über die „Hamsterer“ entstanden: Die hungrigen Städter fuhren aufs Land, um ihren Familienschmuck bei den Bauern gegen einen Vorrat von etwas Essbarem einzutauschen. Die schnell hingeworfenen Zeichnungen sind vielleicht keine großen Kunstwerke, aber berührende Zeitdokumente. Eine ausgemergelte Gestalt hat den Kopf auf den Koffer gebettet, unendlich erschöpft.
Die Ausstellung erzählt auch von Fluchterfahrungen. Dazu empfiehlt sich die Lektüre des gut recherchierten Katalogs, insbesondere über die Vita von Erwin Bowien. Er war ein überzeugter Europäer, bereits seit Ende des Ersten Weltkriegs träumte er von einem geeinten, friedlichen Kontinent. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, gab er sich keinen Illusionen hin. „Von Beginn der schrecklichen Wandlungen in Deutschland an wusste ich, wohin das unweigerlich führen musste.“
Noch im selben Jahr ging er ins Exil, er fing noch mal ganz von vorne an, als Fremder unter Fremden, lernte Niederländisch und fand schnell viele neue Freunde. Aber die Politik seines Heimatlands bereitete ihm jeden Tag neue Qualen. „So bekamen die Bilder, die ich damals schuf, etwas von einem Schrei“, wird er im Katalog zitiert: „Das Meer konnte nicht wild genug sein, die Wolken nicht finster genug.“ Als die Wehrmacht in den Niederlanden einmarschierte, musste er erneut fliehen.
Der Pazifist und Nazi-Gegner besaß keine gültigen Militärpapiere, ständig riskierte er die Verhaftung. Unterwegs tauschte er seine Bilder gegen Kartoffeln und Brot ein. Weil Leinwände teuer waren, übermalte er einfach NS-Propagandabilder, die billig zu haben waren. Malerkollegen denunzierten ihn. Die Gestapo beschlagnahmt seine Werke, Bowien erhält Ausstellungsverbot.
In einem Dorf im Allgäu lernte er 1943 Erna Heinen-Steinhoff kennen, die sich hier mit ihren Töchtern Gabriele und Bettina vor dem Luftkrieg in Sicherheit gebracht hatte. Bettina Heinen-Ayech – der Doppelname ergab sich aus ihrer späteren Heirat mit einem algerischen Bauunternehmer – wurde Bowiens wichtigste Malschülerin. Künstlerisch ist sie zweifellos die spannendste Figur der Kolonie Solingen. Während Erwin Bowiens postimpressionistische Malerei heute manchmal ein bisschen altbacken wirkt, sind ihre Aquarellgemälde von einer frischen, erstaunlichen Farbintensität, ihre Motive setzt sie aus scharf abgegrenzten Flächen zusammen, fast so wie in einem Mosaik.
Der Hamburger Uwe Millies sollte nach dem Krieg die Kronkorkenfabrik seiner Eltern übernehmen, folgte aber lieber seinen künstlerischen Neigungen. Auf einer Malreise nach Sylt lernte er Bowien und Heinen-Ayech kennen und schloss sich ihnen an. Prägend für seinen Stil sind seine zarten Pastelltöne. Auch er wollte ein Weltbürger sein, der in die Kulturen fremder Länder eintaucht. Millies unternahm viele Reisen nach Asien.
Und nach Wuppertal. Warum auch nicht? Im Marco-Polo-Reiseführer sei die Stadt unter den Top Ten der Trendziele 2025 gelistet, sagt Laura Cohen bei der Eröffnung. Über diesen aktuellen Bezug muss sie dann aber selbst lachen.
Die Ausstellung „In der Welt unterwegs“ ist in der Gemäldegalerie zu sehen von Dienstag bis Freitag 11 bis 17 Uhr, am Samstag, Sonntag und Feiertag 13 bis 17 Uhr. Geschlossen ist am 24., 25. und 31. Dezember, 1. und 4. März, sowie 18. und 19. April 2025. Die Ausstellung endet am 27. April.