Süddeutsche Zeitung

Gelungene Integration:"Der James, der macht das schon"

Der 24-jährige Jamshid Sharifi aus Kabul kam 2015 nach Dachau. Jetzt hat er seine Lehre zum Kfz-Sattler als Kammersieger abgeschlossen. Im Betrieb R&R schätzen alle den begabten Handwerker, der gerne knifflige Aufgaben löst, nur seinen Vornamen können sie nicht aussprechen

Von Johanna Hintermeier, Dachau/Fürstenfeldbruck

Jamshid Sharifi hätte viel zu erzählen, er hat Dinge erlebt und gesehen, von denen sich die meisten Menschen in Deutschland keine Vorstellung machen können. Doch darüber redet der 24-Jährige nicht so gerne. Er möchte über sein Handwerk, die Sattlerei, sprechen, erzählt begeistert von der Technik besonderer Nähstiche und der Beschaffenheit des Materials für Lederautositze, während er sich zwischen Regalen und Werktischen in den hinteren Teil der Werkstatt schlängelt. Sharifi hat seine Ausbildung in der Kfz-Werkstatt "R&R" in Überacker im Landkreis Fürstenfeldbruck in diesem Frühjahr erfolgreich beendet. Überdurchschnittlich erfolgreich sogar - die Handwerkskammer für München und Oberbayern zeichnete ihn als Kammersieger in der Fahrzeugsattlerei aus. Mitten im Lockdown öffnete sich für Jamshid Sharifi eine Tür zur Welt. Seine Leistung, die für sich steht, wirkt noch beeindruckender, wenn man seinen Lebensweg nachvollzieht. Sharifi kam im Spätherbst 2015 aus Afghanistan über die sogenannte Balkanroute nach München und wenig später nach Dachau.

Seither lebt er im Landkreis Dachau. Der junge Mann in graufarbenem Arbeitsoverall und schwarzen Schuhen ist kleiner und zierlicher als seine Kollegen. Aber zuerst fällt einem seine aufrechte Haltung auf und der wache Blick aus dunklen Augen. Jamshid Sharifi wirkt schüchtern, ihm ist unbehaglich zu Mute, wenn er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Schnell steuert er in der Werkstatt auf einen gelben Trabi, Baujahr 1990, zu. Seit zwei Jahren steht das Fahrzeug bei R&R. Der Trabant hat einen getunten Motor, statt 36 PS ist er mit einem Motor für einen Polo auf 100 PS hochgerüstet worden. Auch die Autositze stammen aus einem Polo, Sharifi hat sie originalgetreu bezogen. Genauso stammen aus seiner Hand die Türverkleidung, das Lenkrad, die Armaturenabdeckung und die Fußteppiche im Wagen. Viele Tage und Wochen saß er daran - genau diese "Projektarbeit", wie er es nennt, fasziniert ihn. Das liebt der 24-Jährige an seinem Beruf: Er kann individuell arbeiten und ist doch Teil des Gemeinschaftsprojektes aller Mitarbeiter.

Das hilft ihm vielleicht auch, die schrecklichen Erlebnisse auf seiner Flucht zumindest tagsüber aus dem Kopf zu bekommen. Wenn Jamshid Sharifi darüber redet, dann kurzangebunden und in sachlichem Ton. Das volle Schlauchboot, die Kälte in Serbien, die Einsamkeit, die vollen Flüchtlingsunterkünfte in Dachau. Auch über die Bedrohungen, denen er in Kabul, seiner Heimatstadt, ausgesetzt war, verliert er kaum Worte. Seine Familie lebt noch in der Stadt, die von Terroranschlägen erschüttert wird. Keine zwei Wochen nach dem Gespräch ermorden islamistische Attentäter an der Universität 19 Studenten und verletzten 22 weitere. Nach seiner Ankunft in München kam Sharifi schnell in einer Turnhalle in Markt Indersdorf unter, dann verbrachte er ein Jahr in Bergkirchen, bis er in die Asylunterkunft im Himmelreichweg in Dachau einzog.

"Ich möchte das alles zur Seite legen, ich lebe im Hier und Jetzt, in Deutschland, und versuche, mir hier etwas aufzubauen", sagt Sharifi. Kurz gesagt: Er will nicht in eine Rolle gedrängt werden, der des Flüchtlings, die Behörden und viele Menschen in seinem Lebensumfeld ihm zuschreiben. Das hatte er zum Beispiel bei der Wohnungssuche rasch gemerkt. Jamshid Sharifi will sich nicht nur als Geflüchteter definiert sehen, er ist ein Sattler, und ein guter obendrein. So sehen das seine Chefs und Kollegen.

Zur Sattlerei fand er durch ein Praktikum in der Integrationsklasse, die handwerkliche und kreative Arbeit gefiel ihm sofort - und bei R&R ist man begeistert von ihm. "Er kam rein, und ich wusste, der James, der passt hierher", schwärmt Peter Steger, Geschäftsführer und Mitinhaber der Firma. Er betreut James, wie Jamshid Sharifi von seinen Kollegen genannt wird. Das erste Lehrjahr ist besonders in der Berufsschule schwer - die Schüler quälen sich oft mit der deutschen Sprache. Sharifi fehlte auch ein Rückzugsort, an dem er ungestört lernen konnte, denn in den Unterkünften für Geflüchtete teilte er sich mit zwei bis sechs anderen sein Zimmer. Deutsch lernte Sharifi weniger im Klassenzimmer als in der Werkstatt. Er hörte abends Radio und schaute Videos. Heute spricht er leise, aber sicher, ein leichter Akzent mit nahezu perfekter Grammatik.

Auf die bürokratischen Hürden während der Ausbildung und für die Aufenthaltserlaubnis angesprochen, winkt Sharifi beiläufig ab. Er hat ja Peter Steger. Der Mann ist im Umgang mit Behörden erfahren, betreut viele geflüchtete Auszubildende und begegnet Problemen mit einer Engelsgeduld. Der 57-jährige Kfz-Techniker Peter Steger hat vor fast 20 Jahren die Weichen für das Projekt "Starthilfe" gestellt. Der Betrieb ermöglicht jungen Menschen mit schwieriger Lebensgeschichte eine Ausbildung. Steger bleibt gelassen, als die Ausbildung Sharifis zunächst nicht genehmigt wird, und lässt ihn trotzdem anfangen zu arbeiten. Als Sharifis Asylantrag abgelehnt wird, macht er von der 3 + 2 Regelung Gebrauch: in drei Jahren Ausbildung und in den folgenden zwei Jahren ist er in Deutschland geduldet. "Ob ich danach bleiben und arbeiten darf, weiß ich leider nicht, ich muss abwarten", sagt Sharifi. Steger und der Betrieb unterstützen ihn, sie gaben ihm auch Geld für den Führerschein. Nun, da er verdient, zahlt er es zurück.

Der junge Mann verlässt sich im übrigen auf sich selbst. Er bewältigt meist alleine die Berge an Dokumenten und Anträgen, die Behördengänge und was alles einen Geflüchteten in Deutschland so erwartet. Waltraud Wolfsmüller vom Arbeitskreis Asyl in Dachau zeigt sich beeindruckt: "Höchstens eine Nachfrage auf WhatsApp, mehr kam nicht von Jamshid" erinnert sie sich. "Ich habe mir immer selbst gesagt, dass ich halt die nötige Hilfe annehme, die ich brauche. Dass dann alles klappen wird - ich hatte so ein Gefühl", erklärt Sharifi. Als seine Freunde bezeichnet er seine Kollegen. Und sonst, Freizeit? "Ich lerne gerne noch alleine." In Dachau hat er gelegentlich in Jugendgruppen über seine Flucht berichtet. Zu seiner Familie in Kabul pflegt er regelmäßig Kontakt, er möchte aber nicht mehr über sie preisgeben.

Peter Steger blickt mit väterlichem Blick auf seinen Schützling. Er lobt Sharifis sehr gute Schulnoten und seinen Eifer in der Werkstatt - für Steger sind das die Schlüssel für eine gute Integration und Zusammenarbeit: "Ihm reicht kein 'Bestanden' in einer Prüfung, es muss die Eins sein. Er macht es einem in seiner Art leicht, zu helfen". Peter Steger ist selbst Sattler, er lässt "James" freie Hand in der Werkstatt: "Er ist als Sattler viel besser als ich", sagt er dann unvermittelt. Der frischgebackene Sattler blickt bei diesen Worten des Chefs betreten zu Boden. Peter Steger hat viele Berufsanfänger begleitet, von dem 24-Jährigen ist er einfach begeistert. "James passt ins System bei uns. Er ist ein R&R-ler". So sieht sich Sharifi selbst auch, seinen Spitznamen findet er so "fifty-fifty gut", wie er sagt. Er habe sich zu Beginn der Lehre kaum deutsche Namen merken können, und so sei "James" eben ein Kompromiss der Verständlichkeit zuliebe. Kompromisse machen, sich anpassen, und wenn auffallen, dann positiv - mit dieser Strategie scheint Jamshid Sharifi bestens zurecht gekommen zu sein.

Peter Steger sagt: "James hat es uns nie schwer gemacht". R&R hat sich neben normalen Reparaturen auf die Restauration von Oldtimern spezialisiert, mit internationalem Erfolg. Vorne in der Werkstatt steht ein vierrädriges Prachtstück aus Kanada - der Besitzer ließ es extra nach Überacker fliegen. Auch Airbus und BMW sind Stammkunden, mit der TU München entwickelt die Werkstatt seit Jahren Prototypen von Elektro- und Hybridfahrzeugen. In diesem von außen unscheinbaren bayerischem Hidden Champion sitzt Jamshid Sharifi mit der Belegschaft bei Brezen und Filterkaffee am Frühstückstisch. Die Angestellten debattieren gerade über einen Kolben des BMW 328. Das ist genau nach dem Geschmack von Jamshid Sharifi. Er sagt: "Wir sind eine Familie, ich mag alle hier."

Während seiner Flucht arbeitete Sharifi einige Monate in der Türkei in einer Textilfabrik, in der Hoffnung sich dort niederlassen zu können. "Aber da ging es nur um Geschwindigkeit", sagt Sharifi. Er wiederum liebe die Sorgfalt. Die Nähte seinen Arbeiten stechen auch dem Laien ins Auge. "Die meisten Sattler würden den Auftrag ablehnen, eine Türhalterung wie die des Trabis zu beziehen. Das Leder so aufzuspannen, wie es hier nötig ist, das ist unglaublich schwierig", erklärt Steger. "Aber unser James, der packelt des ei".

Peter Steger will Jamshid Sharifi die Leitung der Sattlerei übergeben, nach seiner Meisterprüfung soll er junge Menschen ausbilden. Sharifi lächelt schüchtern, als er das hört. Seine langen schmalen Hände streichen über ein bearbeitetes Lederstück. Er will jetzt erst einmal Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln. Ein Studium könne er sich gerade nicht vorstellen, als zu einschüchternd empfand er die Unistrukturen, als er sich an der TU München informiert hatte. Er lebt sich gerade mal in seiner eigenen Wohnung in Oberbachern ein. Wie denn die Wohnungssuche verlief? "Mit meinem Nachnamen schwierig, aber wie Peter Steger sagt: Man muss geduldig sein." Er geht es pragmatisch an. "Früher habe ich mich manchmal unerwünscht gefühlt auf der Straße, aber ich habe diesen Gedanken abgelegt, der macht einen fertig."

Er scheint sich daran gewöhnt zu haben, dass das Leben für ihn in Deutschland hart sein kann. Vielleicht sieht er das genauso als Aufgabe, wie das glatte Leder ohne Falten über das Lenkrad des Trabis zu spannen - einige würden daran verzweifeln und aufgeben, Jamshid Sharifi macht es einfach.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2020
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