„Ich habe einen Traum – I have a dream“, sagt Herrad Meese am Ende einer intensiven Diskussion, in der es um Unterstützung für Menschen mit Fluchterfahrung geht. Ihren Traum beschreibt sie so: „Ich wünsche mir, dass die führenden AfD-Leute und alle rechtsradikalen Hetzer nur einen Tag lang in eine Klinik müssen, in der genau an diesem Tag kein einziger Migrant arbeitet.“ In der Tat, ein Traum, angesichts von Schlagwörtern der aktuellen Migrationspolitik wie „Grenzen dicht“, „Abschiebung“ oder gar „Abschaffung des Grundrechts auf Asyl“.
Dagegen gehen Hilfsorganisationen und Initiativen wie die Seebrücke Dachau, Refugio München und die vielen Helferkreise an. Sie zeigen, wie Integration gelingt, wie Menschen mit teilweise schlimmsten Flucht- und Migrationserfahrungen hierzulande einen Neustart gewagt und gemeistert haben, und nicht zuletzt, wo Probleme ihre Wurzeln haben, und wie man sie lösen kann. Herrad Meese engagiert sich bei Refugio München. Die Organisation kümmert sich bereits seit den 1990er-Jahren mit psychosozialen und therapeutischen Angeboten um traumatisierte Geflüchtete. Das ist Schätzungen zufolge fast jede und jeder dritte.
Die zivilgesellschaftlich organisierte Seebrücke Dachau setzt sich mit unterschiedlichsten Aktionen für eine menschenwürdige Migrationspolitik ein. Deshalb hat sie kürzlich im Hölzel-Haus in Dachau-Ost eine Lesung mit Cornelia von Schelling, Waltraud Volger und eben Herrad Meese aus deren Buch „Die Schatten der Vergangenheit besiegen“ organisiert.
Die ehrenamtlichen Refugio-Mitarbeiterinnen wollen, „dass die Menschen wissen, was Geflüchtete erlebt haben und wie Refugio hilft, dass sie ihren Platz in Deutschland finden“. Wobei anzumerken ist, dass selbstredend viele weitere Initiativen und Organisationen genau dieses Ziel verfolgen. Gekommen waren jedoch – leider – nur wenige Besucherinnen und Besucher. Trotz der vorsichtigen Wortwahl der Autorinnen und ihrer Gesprächspartner und -partnerinnen lässt sich das Grauen ob der teils alptraumhaften Schicksale kaum abschütteln.
Fatima erlebt eine Katastrophe nach der anderen
Da ist zum Beispiel Fatima aus Sierra Leone, sie war 13, als ihre Eltern sie beschneiden ließen. Allein diese – unter oft einfachsten Bedingungen durchgeführte – schreckliche Verstümmelung – ist für viele Mädchen eine traumatische Erfahrung. Nur wenig später wurde Fatima zwangsverheiratet. Damit war für sie nicht nur die Schule beendet, sie musste sich den viel älteren, gewalttätigen Mann mit drei anderen, ebenfalls älteren Frauen „teilen“. Sie war gerade mal 16 Jahre alt, als sie – es war seinerzeit Bürgerkrieg in Sierra Leone – von Kämpfern der Revolutionary United Front (RUF) entführt wurde und in deren Lager ein Sklavinnendasein fristen musste. Schließlich gelang ihr die Flucht, sie kam bei Verwandten unter, lernte „einen sehr freundlichen, sensiblen Mann“ kennen, heiratete ihn und bekam einen Sohn.
Doch wieder musste sie mit ihrem Sohn fliehen, erlebte eine Katastrophe nach der anderen – und gelangte schließlich nach Jahren der Flucht nach Deutschland. Genauer gesagt, in die Gemeinschaftsunterkunft in Penzberg und schließlich in eine Unterkunft in Berg am Laim. „Ich drehte vollkommen durch“, sagte sie in ihrer von Cornelia von Schelling aufgezeichneten Lebensgeschichte, als sie dort mit ansehen musste, wie sich eine Frau selbst tötete. Sie wurde in die Psychiatrie eingeliefert und „hoffte tatsächlich, durch eine Operation bekäme ich ein neues Gehirn. Mein jetziges Gehirn funktionierte doch nicht mehr.“
Ihre Rettung: die lange Therapie bei Refugio, die letztlich doch erteilte Aufenthaltserlaubnis und ihre Ausbildung zur Altenpflegehelferin. Was sie an ihrer Arbeit besonders schätzt: Niemand fragt sie nach ihrer Vergangenheit. Was sie in all den Jahren immer noch belastet: dass sie ihren Sohn nicht wiedergefunden hat. Fatima steht beispielhaft für geflüchtete Menschen, von denen nur die allerwenigsten die notwendige psychosoziale Hilfe erhalten können.
Der Hass, der ihnen entgegenschlägt, retraumatisiert die Geflüchteten
„Dreißig Prozent haben eine posttraumatische Belastungsstörung, eine PTS“, sagt Refugio-Mitbegründerin Anni Kammerlander, „aber nur drei Prozent von ihnen erhalten eine Therapie.“ Dennoch: „Traumatisierung bedingt keine erhöhte Gewaltbereitschaft – außer gegen sich selbst“, räumt sie mit einer – angesichts der unfassbaren Attentate in jüngster Zeit – weit verbreiteten Meinung auf.
Was dagegen bei vielen Betroffenen derzeit geschieht: „Sie werden durch die Überflutung mit Informationen, durch den zunehmenden Rassismus auf der Straße, durch die Angst vor Abschiebung und dem Gerede von Remigration womöglich retraumatisiert“, sagt Anni Kammerlander. „Aber sie verstecken ihre Ängste oft hinter einer Gute-Laune-Maske“. Mit ihrer langjährigen Erfahrung weiß sie: „Ohne therapeutische Hilfe ist es unmöglich, aus einer PTS herauszukommen“ und: „Es braucht eine stabile Gesamtsituation, sonst ist der Rückfall vorprogrammiert“.
Mit anderen Worten: Es braucht mehr als eine Therapie. Es braucht ein Leben jenseits mittlerweile oft verrotteter Gemeinschaftsunterkünfte. Es braucht Perspektiven. Und es braucht gegenseitige Akzeptanz und Respekt, damit das Zusammenleben funktioniert.