Süddeutsche Zeitung

Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Dachau:Bittere Erinnerung

Die Versöhnungskirche gedenkt auf einer Veranstaltung zum 80. Jahrestag des ersten Transports polnischer Häftlinge ins KZ Dachau. Insgesamt 40 700 Gefangene aus Polen, darunter viele Juden, bildeten die größte nationale Gruppe in dem Lagersystem

Von Helmut Zeller, Dachau

Der Schriftsteller Edgar Kupfer-Koberwitz, der im November 1940 in das Konzentrationslager Dachau deportiert worden war, notierte im August 1943 in sein geheimes Tagebuch: "Für die Polen war das ein unendlicher Jubel. Nach so langer Zeit der Unterdrückung, da sie verachtet und moralisch angespuckt waren im Lager, ... vor aller Welt zu zeigen: Das ist Polen - das sind wir!" Die SS hatte zeitweise kulturelle Aufführungen geduldet. Die polnischen Häftlinge, die größte nationale Gruppe im Lager, nutzten das zu einem Akt ihrer Selbstbehauptung. "Hier in Dachau höre ich unsere Melodien ... Ich vergaß den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun" - so erinnerte sich Adam Kozłowiecki SJ an die Aufführung des Konzerts auf dem Appellplatz.

Im KZ und seinen 140 Außenlagern waren mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa gefangen; mehr als 41 500 überlebten nicht - das Verbrechen machte nach Kriegsende den Namen Dachaus zum Synonym des Naziterrors. "Hier in Dachau höre ich unsere Melodien ..." - unter diesem Motiv steht das Gedenkkonzert zum 80. Jahrestag des ersten Transportes von polnischen Häftlingen ins Konzentrationslager Dachau. Angehörige polnischer KZ-Opfer und deutscher NS-Verfolgter, Politiker und Vertreter der Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft gedenken gemeinsam am Sonntag, 15. September, um 16 Uhr der Opfer. Veranstalter sind das Generalkonsulat der Republik Polen in München, die Evangelische Versöhnungskirche und die Katholische Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte.

Zwei Wochen nach dem Überfall der Deutschen auf Polen trifft am 16. September 1939 der erste Transport mit 25 Gefangenen im Konzentrationslager Dachau ein. Bis April 1945 - am 29. April wurde das KZ von amerikanischen Soldaten befreit - verschleppten die Nationalsozialisten mehr als 40 700 polnische Männer und Frauen nach Dachau; fast 10 000 von ihnen wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt, etwa 1800 als Geistliche unterschiedlicher Konfessionen. Ungefähr 8400 polnische Gefangene wurden im Dachauer KZ-System ermordet. Mit mehr als 70 000 Personen bildeten polnische Frauen und Männer eine der größten Häftlingsgruppen in den beiden bayerischen Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg.

Die Rekonstruktion des Haft- und Leidensweges dieser Menschen ist lange Zeit allerdings nicht ausreichend erforscht worden, nun aber das Ziel eines gemeinsamen Projektes der beiden KZ-Gedenkstätten in Bayern und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Im Zentrum stehen dabei die Transporte der polnischen Opfer in die und aus den Systemen der bayerischen Konzentrationslager. Darüber hinaus sollen verschiedene offene Fragen beantwortet werden: Welche Auswirkungen hatte die deutsche Besatzungspolitik im besetzten Polen auf die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft? Welche Stellen beteiligten sich im besetzten Polen an der Verschleppung der Opfer in die bayerischen Konzentrationslager? Wie unterschiedlich ist die Verfolgungserfahrung der heterogenen Gruppe der polnischen Häftlinge, unter denen auch viele jüdische Polen waren?

Zum Gedenkkonzert kommt der international bekannte Jazz-Geiger Adam Bałdych (33) aus Warschau. Er improvisiert Melodien, die in Dachau Häftlinge ermutigt haben, und Werke von Szymon Laks, Mieczysław Weinberg und Gideon Klein. Laks wurde 1901 in Warschau geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf. 1941 wurde er in Paris verhaftet und 1942 ins KZ Auschwitz verschleppt, wo er Geiger und später Leiter des Männerorchesters war. Im November 1944 kam er ins Dachauer Außenlager Kaufering XI. Ende April 1945 wurde er befreit. Weinberg kam 1919 ebenfalls in einer jüdischen Familie in Warschau zur Welt. Nach dem deutschen Überfall auf Polen brach er sein Musikstudium ab und floh in die Sowjetunion. Seine Familie wurde von den Deutschen ermordet. Klein wurde 1919 in der Tschechoslowakei geboren. 1939 musste er sein Musikstudium in Prag unterbrechen, als die Deutschen seine Universität schlossen. 1941 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft ins Ghetto Theresienstadt verschleppt. Dort duldeten die Nationalsozialisten zeitweise kulturelle Aktivitäten. Klein unterrichtete, komponierte und gab Konzerte. Im Oktober 1944 wurde er nach Auschwitz verlegt, in dessen Außenlager Fürstengrube er am 27. Januar 1945 ermordet wurde.

Andrzej Osiak, polnischer Generalkonsul in München, wird in seiner Begrüßung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahre n erinnern. Unter Mitwirkung von Ernst Grube (86), Theresienstadt-Überlebender und Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, und von Julia Sailer (16), Schülerin am Josef-Effner-Gymnasium Dachau mit einer polnischen Mutter und einem deutschen Vater, gestalten Kirchenrat Björn Mensing und Pastoralreferent Ludwig Schmidinger, die Beauftragten der evangelischen und der katholischen Kirche für die Gedenkstättenarbeit in Dachau, zwischen den Musikstücken ein namentliches Gedenken für polnische Häftlinge.

Katarzyna Werner, Managerin von Adam Bałdych, ist die Enkeltochter des Arztes Bronisław Werner aus Nowe Miasto Lubawskie, den die SS im KZ Dachau am 16. November 1941 im Alter von 42 Jahren ermordete. Das Gedenkkonzert, wenige Meter vom Krematorium entfernt, in dem die Leiche ihres Großvaters verbrannt wurde, hat für sie eine ganz persönliche Bedeutung, wie Pfarrer Mensing erklärt. Gemeinsam mit ihrer Mutter kommt sie aus Polen nach Dachau. Der Kirchenrat und Historiker wird als Vertreter der evangelischen Kirche begrüßen, die, wie er sagt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht gegen den deutschen Überfall auf Polen und den unter der Besatzungsherrschaft verübten Massenmord an Millionen Juden und Polen protestiert hat.

Der Gedenkveranstaltung hat für Björn Mensing seinen Worten zufolge eine persönliche Bedeutung - als Enkel von Konrad Mensing, der im Zweiten Weltkrieg in der Besatzungsherrschaft aktiv war. "Obwohl er als Beamter 1933 als SPD-Mitglied aus dem Dienst entfernt worden war, wurde er kriegsdienstverpflichtet, um in der Verwaltung des Warthegaus zu arbeiten." Diese Region um die Stadt Posen war von Hitler annektiert worden und sollte "germanisiert" werden. Er zog mit seiner Familie nach Exin (Kcynia). Dort leitete er ab 1942 als Amtskommissar die Stadtverwaltung, wohnte in einer Villa, aus der die polnischen Besitzer vertrieben worden waren, und war an der Umgestaltung der katholischen Pfarrkirche zur "Weihehalle" beteiligt. Da es im Warthegau zu einer Gleichschaltung von staatlicher Verwaltung und NSDAP kam, fungierte Mensings Großvater auch als kommissarischer Ortsgruppenleiter.

In den vergangenen Jahren reiste Björn Mensing nach Kcynia und konnte Janina finden, die mit zwölf Jahren als polnisches Kind nicht mehr zur Schule gehen durfte, sondern Zwangsarbeit als Kindermädchen in der Familie Mensing leisten musste. "Dass die nun alte, aber noch sehr rüstige Dame mich für ein mehrstündiges Gespräch empfing, hat mich tief bewegt", so Mensing. Die Erinnerung an die polnischen NS-Opfer und an die Verstrickung so vieler Deutscher in das Unrecht und die Verbrechen sei ihm seither ein noch größeres Anliegen.

Angesichts der Geschichte seien es, sagt Mensing, für ihn immer wieder starke Zeichen der Versöhnung, wenn NS-Verfolgte und ihre Angehörige seine Einladung annehmen würden. Das taten Familienangehörige des polnischen Häftlings Jakob Sabasch, der von einem SS-Mann am 16. November 1941 in Dachau bestialisch ermordet wurde, haben ihren Besuch zugesagt. Teilnehmen wird zudem der frühere Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag, der im polnischen Kattowitz geboren wurde. Sein jüdischer Vater war in ein Außenlager von Auschwitz verschleppt worden. Weitere Angehörige von NS-Verfolgten stehen auf der Gästeliste, unter ihnen Enkel von Mitgliedern der Weißen Rose, die in ihren Flugblättern gegen die "scheußlichsten menschenunwürdigsten Verbrechen" der deutschen Besatzer in Polen protestiert hatten und in München-Stadelheim hingerichtet wurden.

Manche Holocaust-Überlebende fanden unter schwierigen Bedingungen in München und anderen deutschen Städten in der Nachkriegszeit eine neue Heimat. Rabbiner Steven Langnas kommt aus der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Ebenso sind die Liberale jüdische Gemeinde München Beth Shalom und die Europäische Janusz Korczak Akademie vertreten sowie die Deutsch-Polnische Gesellschaft.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2019
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