Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten:"Die Bilder verfolgen mich"

Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten: Wider das Vergessen: Leon Schwarzbaum erzählt von Auschwitz, den Todesmärschen und der Zeit danach. Gabriele Hammermann hakt manchmal nach.

Wider das Vergessen: Leon Schwarzbaum erzählt von Auschwitz, den Todesmärschen und der Zeit danach. Gabriele Hammermann hakt manchmal nach.

(Foto: Toni Heigl)

Am Holocaust-Gedenktag berichtet der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum im Thoma-Haus von seinen schrecklichen Erfahrungen. Sein Leben lang ist er auf der Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem Warum

Von Christiane Bracht, Dachau

Es ist die Frage nach dem "Warum?", die ihn noch immer umtreibt. Auch 72 Jahre nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager hat Leon Schwarzbaum noch keine Antwort darauf gefunden. "Warum haben so viele mitgemacht? Was war der Grund?" Und: "Warum waren sie so grausam?" Bislang ist der 96-jährige Holocaust-Überlebende auf eine Wand des Schweigens gestoßen. Täter wie der SS-Mann Reinhold Hanning, gegen den Schwarzbaum im Prozess von 2015 als Nebenkläger auftrat, geben keine Antwort. Auch am Freitag, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, bekommt Leon Schwarzbaum keine Antwort. Das Publikum im gut gefüllten Saal des Thoma-Hauses ist jung, kennt den Holocaust nur aus Erzählungen oder dem Schulunterricht. Wenige Zuhörer sind vielleicht gerade mal im Krieg geboren. Dennoch, die Betroffenheit ist groß.

Während Schwarzbaum erzählt, wie die Deutschen 1939 in seine Heimatstadt Będzin in Oberschlesien einfielen und die Synagoge mit den Juden verbrannten, die darin Schutz gesucht hatten, ist es absolut still im Saal. Die Überlebenden wurden in ein Ghetto getrieben und zwischen Juli und August 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Auch Leon Schwarzbaum. Entsetzen macht sich in den Gesichtern der Zuhörer breit. "Ich hatte gerade Abitur gemacht, spielte Basketball, liebte Tennis und Swing. Mit Freunden hatte ich eine Band gegründet. Wir nannten uns die Jolly Boys. Doch von einem Tag auf den anderen war das Leben ganz anders", erinnert sich Schwarzbaum. "Unsere Stadt war voller Kultur und Leben, doch das kehrte nie wieder zurück." 30 000 Juden lebten im 65 Kilometer nordwestlich von Krakau gelegenen Będzin.

Es fällt Leon Schwarzbaum schwer, seine Erlebnisse zu schildern. Schon beim ersten Satz fehlt ihm plötzlich ein Wort. Es mag ihm einfach nicht mehr einfallen. Die Leiterin der Gedenkstätte, Gabriele Hammermann, die mit ihm auf dem Podium sitzt, hilft. Danach liest Schwarzbaum lieber vor. Das ist leichter. Später erzählt er auch frei und beantwortet die vielen Fragen aus dem Publikum. "Ich habe lange Jahre geschwiegen", sagt er. "Doch je älter ich werde, je mehr denke ich daran. Die Bilder verfolgen mich in meinen Träumen. Die Nazis haben mein Leben zerstört." Jetzt im Alter will der Berliner reden. Er sagt: "Die Wahrheit muss raus." Er sieht es als seine Pflicht an, Schulen zu besuchen und den Jugendlichen die Geschichte ihres Volkes näher zu bringen. "Solange ich sprechen kann, werde ich es tun. Das bin ich den Toten schuldig", sagt er.

Als Leon Schwarzbaum im August 1943 in Ausschwitz ankam, war seine Familie bereits tot. Der damals 22-Jährige hatte schon erlebt, wie ein 17-jähriges Mädchen vor seinen Augen von einem SS-Offizier erschossen wurde, weil sie fliehen wollte. Auch Schwarzbaum machte einen Fluchtversuch, kam aber davon. Er sah wie Eltern ihre Kinder aus dem fahrenden Zug nach Auschwitz warfen, um ihnen das Leben zu retten. Im Vernichtungslager allerdings musste er noch grausamere Dinge mitanschauen: Wie Lastwagen mit nackten Menschen ankamen, die ihre Hände in den Himmel reckten und nach Wasser lechzten. Eine halbe Stunde später waren alle tot - vergast. Häftlinge des "Sonderkommandos" mussten den Toten nehmen, was sie hatten, Goldzähne, Geld oder auch Kleider. Später wurden sie selbst umgebracht. Es sollte keinen Zeugen geben. Die Flucht gelang fast niemandem. Wer entdeckt wurde, auf den hetzten die SS-Leute Hunde, die die Häftlinge zerfleischten. "Als die Kolonne abends von der Arbeit ins Lager kam, musste sie an den Toten vorbei, in der Ferne hörte man eine Kapelle, Tanzmusik spielen. Die Toten waren auf Stühlen am Wegrand aufgereiht", erinnert sich Schwarzbaum. "Jeden Tag waren es vier oder fünf Tote."

Schwarzbaum folgte dem Rat des Mannes, der ihn bei Ankunft im Lager die Nummer auf den Arm tätowierte. "Wenn du eine Chance haben willst, musst du arbeiten", flüsterte er ihm zu. Und so wurde der damals 22-Jährige mit viel Glück Laufbursche, später arbeitete er bei Siemens als Galvaniseur im nahegelegenen Außenlager Bobrek. "Die Meister behandelten uns anständig", erzählt er. "Sie haben gewusst, dass wir sie davor schützen, dass sie nicht in den Krieg ziehen müssen. Die SS-Leute waren dagegen grausam und sadistisch." "Gab es auch welche, die Menschlichkeit gezeigt haben?", will ein Mann aus dem Publikum wissen. "Sicher gab es SS-Männer, die menschliche Züge gezeigt haben, aber ich habe sie nicht kennen gelernt", sagt Leon Schwarzbaum. "Ich habe nur Grausamkeiten gesehen."

Im Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning im Jahr 2015 trat Leon Schwarzbaum als Nebenkläger auf. Es ging ihm nicht nur um Sühne, er wollte eine Antwort auf die Frage, die zeit seines Lebens umtrieb. Er fragte den Angeklagten, warum er so grausam war. Aber eine Antwort blieb Hanning ihm schuldig. Er versteckte sich wie viele andere hinter der Erklärung, dass er nur Befehle ausgeführt habe, bestritt sogar den Vorwurf der Beihilfe am Massenmord. Der 94-jährige Hanning, der in Auschwitz und Sachsenhausen eingesetzt war, wurde wegen Beihilfe in mindestens 170 000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt.

"Ich fühle mich schuldig, obwohl ich erst 1973 geboren wurde", meldet sich ein Mann aus dem Publikum. "In meiner Familie waren Täter aus der SS und ich möchte mich für ihr Verhalten entschuldigen." Erfahren habe er von ihnen nichts. Niemand habe über die Kriegsjahre gesprochen, die Großeltern nicht und die übrigen Verwandten und Nachbarn schwiegen ebenfalls. Das sagen auch andere im Publikum. "Ich kann ihnen nur sagen: Mein Großvater ist 1985 gestorben und er hat seit Ende der Kriegsgefangenschaft bis zum Tod jeden Tag eine Handvoll Beruhigungstabletten genommen. Er konnte sich nicht verzeihen, was er Ihnen angetan hat." Eine andere Frau erzählt von den letzten Worten ihres Onkels, der 93 Jahre alt wurde: "Wie soll ich vor Gott treten mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe?"

Mit lang anhaltendem Applaus zollen die Dachauer Leon Schwarzbaum am Ende Respekt für seinen Mut, seine Ehrlichkeit und die Überwindung, die es ihn gekostet haben muss, seine schreckliche Geschichte noch einmal zu erzählen und zu durchleben. Er steht auf und nickt ihnen zu.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: