Süddeutsche Zeitung

Gedenken am Mahnmal in Dachau Ost:Es geschah vor den Augen der Menschen

Der Schoah-Überlebende Abba Naor erinnert auf einer Gedenkfeier an die Todesmärsche der Dachauer Häftlinge durch Städte und Dörfer

Von Benjamin Emonts, Dachau

Der Krieg war fast vorüber, die US-amerikanischen Truppen Dachau schon ganz nahe, als die SS Tausende Häftlinge aus dem Konzentrationslager und Außenlagern in Richtung Süden auf die Todesmärsche zwang. Die meisten überlebten die Strapazen nicht, wurden erschossen, erschlagen oder starben an völliger Entkräftung. Und es geschah vor den Augen der Menschen. Die Märsche, betont der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), führten nicht etwa durch den "leeren Raum, sondern durch Dörfer und Städte". "Amtsträger und Dorfbewohner machten sich zu Komplizen und Mittätern." Hartmann weist bewusst auf diesen Umstand hin. Denn mehr denn je muss er, wie er sagt, feststellen, dass Hass und Unterdrückung wieder auf dem Vormarsch sind, Rechtspopulismus und Antisemitismus in Deutschland und Europa wieder erstarken.

Die Bürger müssen sich dem mit aller Macht widersetzen und in den Weg stellen. Das ist die Botschaft aller Redner, auch des Schoah-Überlebenden und Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees, Abba Naor. Am Samstag spricht er auf der alljährlichen Gedenkfeier am Todesmarsch-Mahnmal an der Theodor-Heuss-Straße. "Ich hoffe, die jungen Menschen in diesem Land werden das nicht zulassen", sagt Naor.

Der 90-Jährige erzählt seine Geschichte jedes Jahr Tausenden Schülern. Auch den mehr als 150 Gästen der Gedenkfeier, darunter Überlebenden aus Deutschland, Israel, Frankreich den Niederlanden und Tschechien, erzählt er, wie er damals in seiner Heimat Litauen als Bub noch friedlich leben konnte, bis sich eines Tages alles schlagartig veränderte und "unsere Nachbarn zu unseren Mördern wurden". Naor musste mit seiner Familie für vier Jahre ins Ghetto von Kaunas. Sein 14-jähriger Bruder Chaim wurde erschossen. Die Familie wurde ins KZ Stutthof deportiert, er und sein Vater kamen in Außenlager des KZ Dachau bei Kaufering. Die Mutter und sein zweijähriger Bruder wurden in Auschwitz vergast. "Es war nur Zufall, wenn jemand überlebt hat", sagt Naor.

Die Todesmärsche seien das "Finale" gewesen. Tag und Nacht marschierten sie völlig entkräftet und nur mit Fetzen bekleidet durch die Kälte. "Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Man hörte jedes Mal nur einen Knall." In Waakirchen, rissen einige Häftlinge vor Hunger Fleischstücke aus einem toten Pferd. Dann kamen irgendwann die Amerikaner." Seither sind 73 Jahre vergangen. Und Naor muss feststellen, dass der Antisemitismus in Deutschland wieder erstarkt. Er stellt die Frage: "Haben die Leute vergessen. Sind sie blind?"

Susanne Breit-Keßler, Regionalbischöfin des Kirchenkreises München und Oberbayern, gehört nicht zu den Menschen, die wegsehen. Sie hält eine beeindruckende Rede, in der sie zu Toleranz und Wachsamkeit aufruft. Abba Naor bedankt sich bei ihr mit einer innigen Umarmung. Wie Hartmann spricht sie Klartext: Bis auf wenige Ausnahmen habe die Kirche in der NS-Zeit jämmerlich versagt. "Damals, beim Todesmarsch, konnte man vor den eigenen Fenstern und Haustüren erneut sehen, was man auch in den Kirchen einfach nicht wahrhaben wollte: Dass die Nationalsozialisten mit ihren widerlichen Stereotypen des Hasses und der Menschenverachtung gegen alle Menschen zu Felde zogen und ziehen, die nicht in ihr Bild passen."

Lange Zeit habe sich Deutschland der eigenen Geschichte nicht gestellt. Nun erhebe das "braune Ungeheuer" bereits wieder sein Haupt. Breit-Keßler appelliert an die Verantwortung des Menschen "vor Gott und seinen Mitmenschen". "Wir brauchen hohe Wachsamkeit, wo immer Leben abschätzig beurteilt und diskriminiert wird." Angesichts des erstarkten Antisemitismus dürfe man nicht länger schweigen. "Wir müssen uns einüben im leidenschaftlichen Widerspruch."

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SZ vom 30.04.2018
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