Fulminanter Auftakt:Der gar nicht fade Stefan Fadinger

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Zum Auftakt des Literaturfestes "Dachau liest" stellt Kabarettist Sigi Zimmerschied seinen Roman "Der Komparse" in einer szenischen Lesung vor. Das Publikum ist begeistert

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Nach einer furiosen Auftaktlesung des Literaturfestes "Dachau liest" in die nächstgelegene Buchhandlung zu stürmen, um Sigi Zimmerschieds Roman "Der Komparse" zu kaufen, bringt nichts. Der Kabarettist und Autor hat das sprachmächtige Werk im Eigenverlag herausgebracht. Warum, erzählt er vor der eigentlichen Lesung am Mittwochabend in der gut besuchten Dachauer Stadtbücherei. "Die Prozesse sind mir zu lang, das halte ich nicht aus", sagt er. Er sei zwar "nicht ganz inkompatibel", aber "das Fieber für einen Stoff ist nicht endlos". Insofern lässt sich nach eineinhalb Stunden schauspielender Lesung respektive gelesenem Schauspiel nur feststellen: Gut, dass sich Zimmerschied nicht an "Überbau und Marktspekulation" abgearbeitet hat, sondern im Fall von "Der Komparse" multitaskingmäßig als Autor, Verleger und Verkäufer arbeitet.

Der unglückselige Held seines Romans ist jedoch ein wahrer Gegenentwurf, wie schon dessen Name suggeriert. Stefan Fadinger ist das, was man gemeinhin eine "graue Maus" nennt. Er ist das von Anfang an ungeliebte Ergebnis einer Faschingsliebschaft und wird an einem 1. November geboren: "Ein unbedeutendes graues Leben beginnt. Pappnase und Totenlicht waren seine Koordinaten." Seine Mutter ist "von Beruf Sanitätshauserbin", sein Vater ein Lagerist. Stefan wird im Lager des Sanitätshauses Zapf abgestellt, "Fliesen, Kacheln, Tapetenmuster waren seine Spielkameraden." So wird aus dem Einzelkind Stefan ein Einzelgänger, einer, der sich vor dem Leben versteckt, das um ihn herum tobt - und das Zimmerschied mit geradezu satanischer Lust und bösestem Witz beschreibt, immer wieder überraschende Wendungen inklusive. Die Santätshaus-Sippschaft lebt nach strengsten Spießerregeln in "einer musealen Chippendale-Welt".

Zu Hause durfte er nichts. Hier schien es, als müsse er dürfen

Die Hippie-Wohnung seiner Eso-Tante Herta und ihre antiautoritären Erziehungsmethoden sind für den kleinen Stefan keine Zuflucht, sondern eher eine Strafe, denn "zu Hause durfte er nichts. Hier schien es, als müsse man dürfen". Spätestens jetzt wird klar: "Der Komparse" entwickelt sich auch zur Reise durch die soziale und politische Welt der vergangenen Jahrzehnte aus der Kleinstadtperspektive, die Zimmerschied genüsslich seziert und mit skurrilen bis bizarren Gestalten aufmischt. Stefans Halt in diesem Panoptikum menschlicher Abgründe und Leidenschaften ist seine Kindergartenfreundin Lisa. Sie "wollte nichts von ihm. Sie war nur da. So weit, wie Stefan davon entfernt war, so tief stand Lisa drin - im Leben".

Die Vermutung, dass es sich bei der kleinen Stadt um Passau handelt, wo Zimmerschied geboren wurde und seine ersten Erfolge als Kabarettist feierte, liegt nahe, obwohl der Name kein einziges Mal genannt wird. Das spielt aber keine Rolle, denn dieses Panoptikum tragisch-komischer Typen findet sich fast überall. Es erwacht aber erst zum Leben, wenn Zimmerschied in seiner unnachahmlich liebenswert-boshaften Art jeder seiner Romanfiguren eine unverwechselbare Stimme und Gestalt gibt. Da bekommt man förmlich Mitleid mit dem Bub Stefan. Für den ist es ein Höhepunkt in seinem Kindergartenleben, sich beim Versteckspiel so unsichtbar zu machen, dass ihn erst ein Polizeihund aufspürt.

Alles, was sich geschmacklich zu weit vom Weißbier entfernt, geht gar nicht

Wenn man sich nicht gerade vor Lachen ob der Interpretation der Zeitläufe auf die Zimmerschied-Art biegt ("Es wuchs zusammen, was zusammen gehörte: Eierlikör und Eckes-Edelkirsch" über die Wiedervereinigung), begleitet ein leises Bedauern die Quasi-Nichtexistenz Stefans im mehr als turbulenten Fortgang der Handlung: Die graue Maus wird ausgerechnet Beamter im Katasteramt und nach einem alkoholgeschwängerten Betriebsausflug in die Wachau zum Kantinengespräch. Einfach umwerfend ist die bei diesem ansonsten nicht gerade delikaten Ereignis differenzierte Beschreibung niederbayerischer-Weinpräferenzen: "Alles, was sich geschmacklich zu weit vom Weißbier entfernt", geht gar nicht.

Nach dem Tod der dominanten Mutter sackt Stefan ab. Die scheinbare Erlösung aus seinem Elend naht in Gestalt der Komparsen-Vermittlerin Ludmilla von Muschatka. Die Baronin vermittelt Stefan als Komparse in die "Gruppe Kiosk" in einer TV-Familienserie. Bisher hat er vor der Glotze das Leben seiner Fernsehhelden gelebt, jetzt sind sie da - leibhaftig zum Anfassen. Für Stefan werden seine Fernsehauftritte zur Droge. Endlich macht er alles richtig im Universum der Eitelkeiten am Set. Er steigt zum Helden diverser Shows auf, wird zu "einer Mischung aus Dr. Brinkmann, Lassie und Mutter Beimer", beglückt seine bucklige Verwandtschaft und wird gnadenlos ausgenutzt.

Zimmerschied hat in dieser tragischen Komödie alle Handlungsstränge fest im Griff. Er läuft zur Hochform auf, wenn er mit grotesker Komik den Irrsinn der Mainstream-Medienwelt beschreibt. Er hat einen Roman geschrieben, der bei allem Witz nachdenklich macht - und sich als passgenaue Ouvertüre für "Dachau liest" entwickelt hat.

© SZ vom 06.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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