Freundschaft wird mit Leben erfüllt:Geste der Versöhnung

Lesezeit: 4 Min.

Die französische Gemeinde Oradour sur Glane und Dachau pflegen seit Jahren intensive Beziehungen. Soli-Vorsitzender und Stadtrat Wolfgang Moll nimmt jetzt am Wochenende der europäischen Jugend teil, bei dem auch ein Musical aufgeführt wird

Von wAlter Gierlichund Helmut Zeller, Dachau/Oradour sur Glane

Stadtrat Wolfgang Moll (parteilos) steht vor einer Reise, die ihm besonders am Herzen liegt: Als offizieller Vertreter der Stadt Dachau nimmt er am Wochenende der europäischen Jugend, 1. und 2. September, in Oradour sur Glane teil. Mit ihm fahren Basketballspieler des TSV 1865 und Mitglieder des Radsportvereins Soli Dachau, deren Vorsitzender Wolfgang Moll ist. Das ist beileibe nicht das erste Mal, dass der Stadtrat Oradour besucht. Doch dieser Ort und seine Geschichte hat sein Denken geprägt: Seit einigen Jahren engagiert Wolfgang Moll sich nun für die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland - und für die Erinnerung an das NS-Verbrechen in Oradour, eines von ungezählten in ganz Europa, das für Moll, wie er einmal sagte, schlimmster Ausdruck der Nazibarbarei ist.

Der 10. Juni 1944 markiert den Tag, an dem fast alle 642 Bewohner des französischen Dorfs Oradour sur Glane bei einem Massaker der Waffen-SS ermordet wurden. (Foto: oh)

Der 10. Juni 1944 markiert den Tag, an dem fast alle 642 Bewohner des französischen Dorfs Oradour sur Glane bei einem Massaker der Waffen-SS ermordet wurden. Frauen und Kinder wurden in der Kirche eingeschlossen und erstickten, nachdem die SS-Leute Feuer gelegt hatten. Die Männer wurden erschossen. Nur sechs Menschen überlebten das Massaker, darunter Robert Hébras. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Der heute 91 Jahre alte Robert Hébras war 18, als es geschah. Er lag unter den Leichen seiner erschossenen Freunde. Später gelang ihm die Flucht aus dem brennenden Dorf, das völlig zerstört wurde.

Wolfgang Moll (Mitte) bei einer Gedenkfeier in Oradour (Foto: oh)

Robert Hébras ist eine der Persönlichkeiten, die viel für die Verbindung von Oradour und Dachau tun und jede Initiative gegen das Vergessen unterstützen. Dachau, dessen Name für das ehemalige Konzentrationslager, Modell aller anderer Nazilager in Europa, steht, hat seit vielen Jahren schon eine besondere Beziehung zu Oradour. Es begann im Jahr 2009. Die CSU-Landesgruppenchefin und Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Dachau/Fürstenfeldbruck, Gerda Hasselfeldt, knüpfte damals das Band zwischen beiden Orten. Damals, erinnert die Politikerin sich, wollte der Bürgermeister von Oradour nur unter vier Augen mit ihr sprechen. Zu stark schmerzte die Erinnerung an die deutschen Gräuel, die nie verblasst ist. Inzwischen gibt es einen regen Austausch zwischen beiden Kommunen mit vielen gegenseitigen Besuchen bei Gedenkfeiern und sportlichen Veranstaltungen.

Der damalige Oberbürgermeister Peter Bürgel (CSU), der eine Wende in der Erinnerungspolitik der Stadt Dachau vollzog, vertiefte die deutsch-französische Freundschaft. Mit dem Sport hatten die Kontakte nach Dachau begonnen, als der 65. Jahrestag des Massakers und der 60. Geburtstag des Fußballclubs von Oradour anstanden. Der frühere Bürgermeister Robert Frugier hatte sich für Dachau entschieden: Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums reisten zum Jubiläumsturnier nach Oradour, 2012 kamen die französischen Kicker zum Gegenbesuch. Im selben Jahr durfte Oberbürgermeister Bürgel als erster deutscher Politiker einen Kranz bei der Gedenkfeier für die Opfer des SS-Massakers niederlegen, eine Geste, die er in den Jahren danach weiterführen konnte und die seit 2014 sein Nachfolger Florian Hartmann (SPD) fortführt.

Peter Bürgel legte als erster deutscher Politiker einen Kranz bei der Gedenkfeier in dem zerstörten Dorf nieder. (Foto: oh)

Hartmann, der auch eine innige Verbindung mit Robert Hébras und seinem französischen Kollegen Philippe Lacroix aufgebaut hat, spricht von einem "großartigen Symbol zwischen unseren beiden Völkern und zwischen Oradour und Dachau". Sein Lob gilt denjenigen, die diese Verbindung mit Leben erfüllen. Zum Beispiel Wolfgang Moll, dem Städtepartnerschaftsreferenten des Dachauer Stadtrats. Im Jahr 2014 etwa organisierte er eine Tour der Versöhnung zum Jahrestag des Massakers. 40 Dachauer vom Radsportverein Soli und französische Radsportler legten bei Regen und Hitze eine Strecke von 1200 Kilometern Länge zurück. "Es ist ein Moment der Freundschaft und Brüderlichkeit, mit dem diese Fahrt heute zu Ende geht", sagte damals Bürgermeister Philippe Lacroix bei der Ankunft der Dachauer. Moll hat 2015 auch Gäste des Radsportvereins in Oradour beim Dachauer Bergkriterium empfangen.

Dachaus früherer Oberbürgermeister Peter Bürgel und die Bundestagsabgeordnete Gerda Hasselfeldt legten den Grundstein für die Partnerschaft mit Oradour. (Foto: oh)

Anfang September wird Wolfgang Moll wieder durch die Ruinen des zerstörten Dorfes gehen - ein ihm bekannter Anblick, an den er sich jedoch nie gewöhnen wird, auch nicht will, weil das dem Vergessen den Weg bereiten würde. Am Wochenende der europäischen Jugend wird in Oradour das Weltkriegs-Musical "Mademoiselle Marie" aufgeführt. "Die Vorbereitungen für die Aufführung in Frankreich dauerten fast ein Jahr, der logistische Aufwand ist enorm und es ist nicht sicher, ob uns der Spagat gelingt", sagte der Autor des Stücks, Fritz Stiegler, in einem Gespräch mit dpa. 150 Schauspieler und viele Helfer seien auf dem Weg an den historischen Ort. "Oradour ist schlechthin das Symbol für die deutschen Kriegsverbrechen", betonte Stiegler.

Die Gruppe sei von den Franzosen eingeladen worden, das Musical über die Liebe einer fränkischen Bäuerin zu einem französischen Kriegsgefangenen zu zeigen. Auch die Geschehnisse in Oradour sind Teil des Stücks, das mehr als 14 000 Zuschauer vor zwei Jahren in der Open-Air-Version in Cadolzburg (Landkreis Fürth) sahen. Anschließend wurde die dramatische Liebesgeschichte fürs Kino verfilmt. Für die Aufführung in der Sporthalle von Oradour wurden vier Titel von einer Chansonsängerin übersetzt. "Viele Schauspieler haben extra Französisch gelernt", sagte Stiegler, der das Projekt als Zeichen für die deutsch-französische Freundschaft wertet. "Das Projekt ist ein Novum. Es gibt bisher nichts Vergleichbares."

Vergleichbar sind auch die Beziehungen von Oradour zu Dachau nicht: Auch Dachaus Zweiter Bürgermeister Kai Kühnel (Bündnis) war von seinem Besuch im Juni dieses Jahres beeindruckt: ein zweistündiger Gedenktrauermarsch, mehr als 50 Kranzniederlegungen und viele bewegende Reden. Bei heißen Temperaturen kamen mehr als zweitausend Menschen zusammen. Auch eine mittelfränkische Delegation, der deutsche Konsul aus Bordeaux, Wilfried Krug, und die deutsche Botschaft waren zum Gedenken angereist.

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron wollte trotz Parlamentswahlen am folgenden Tag nicht darauf verzichten, an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen. "Unvorstellbar", fand Kühnel, dass Macron jeden mit einem netten Wort bedachte und es sich nicht nehmen ließ, Hunderten die Hand zu schütteln. Macron war in Begleitung von 500 Kindern aus ganz Frankreich. Diese Generation müsse die Erinnerungsarbeit weitertragen, betonte er in seiner Rede. Außerdem machte er deutlich, wie wichtig die europäische Idee und die deutsch-französische Freundschaft sind.

Das ist in Dachau, das auch eine jahrzehntelange Freundschaft mit dem polnischen Oświęcim unterhält, angekommen. "Ich wollte nicht sterben, bevor ich nicht sicher war, dass es eine Freundschaft zwischen Oradour und einer deutschen Stadt gibt", sagte Hébras 2014 - und dass die Wahl auf Dachau gefallen ist, ist eine besonders Geste der Versöhnung. Auch Wolfgang Molls Radtour hat für den Zeitzeugen, der das Museum neben den Ruinen des alten Dorfs mitinitiiert hatte, besondere Bedeutung. "Der Sport, vor allem der Radsport und der Fußball, haben geholfen, das neue Dorf Oradour wieder aufleben zu lassen", erklärte der damals fast 89-Jährige.

© SZ vom 26.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: