Franziskuswerk Schönbrunn:Der Mythos ist zerbrochen

Prälat Josef Steininger und der Dachauer Arzt Hans-Joachim Sewering wurden lange glorifiziert - nun ist ihre Rolle im Nationalsozialimus erforscht. Der Mythos ist zerbrochen.

Wolfgang Eitler

Der Mythos vom Prälaten Josef Steininger, dem "Retter und Vater von Schönbrunn", ist zerbrochen. Der Nimbus des früheren Präsidenten der Bundesärztekammer, Hans Joachim Sewering aus Dachau, als Mediziner mit hohen ethischen Maßstäben ist offiziell und öffentlich widerlegt.

Franziskuswerk Schönbrunn: Das Franziskuswerk in Schönbrunn ist eine Einrichtung für behinderte Menschen.

Das Franziskuswerk in Schönbrunn ist eine Einrichtung für behinderte Menschen.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Das Symposium zur Rolle Schönbrunns im Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten vergangene Woche mündete in die Erkenntnis, dass Steininger und die dort tätigen Ärzte aus dem Dorf für geistig behinderte Menschen von 1940 bis 1945 einen Ort des Schreckens auch für die damaligen Ordensschwestern gemacht hatten.

Der Direktor von Schönbrunn beteiligte sich unter der Mithilfe Sewerings und vieler anderer Ärzte nicht nur an einzelnen Deportationen, sondern an der systematischen Räumung der Einrichtung.

In Ansätzen war die Dimension der Zusammenarbeit zwischen Steininger und den Nationalsozialisten des Münchner Gesundheitsamts schon seit 2006 bekannt. Damals veröffentlichte der Focus-Journalist Markus Krischer die Ergebnisse seiner zwölfjährigen Recherche über die Deportation von 44 Kindern aus Schönbrunn am 2. Juni 1944. Danach lebten in Schönbrunn keine behinderten Menschen mehr.

Trotzdem gelang es Steininger, sich nach 1945 als NS-Widerstandskämpfer zu präsentieren, dem es zu verdanken sei, dass die kirchliche Einrichtung und damit der Orden der Franziskanerinnen vor dem Zugriff der Nationalsozialisten bewahrt wurde. In einer 30-seitigen Kurzbiographie baute er diesen Mythos von sich als "Vater von Schönbrunn" auf. Steininger starb 1965 als Hausprälat des Vatikans.

Die Historikerin Annemone Christians vom Institut für Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat die engen Beziehungen zwischen dem Münchner Gesundheitsamt und Schönbrunn im Detail recherchiert. Ihre Promotion ist Teil eines umfassenden Projekts, in dem die Landeshauptstadt die Geschichte der Stadtverwaltung während der Zeit des Nationalsozialismus erforschen lässt.

Demnach waren die Kontakte zwischen Schönbrunn, dem Direktor und dem nationalsozialistisch geprägten Gesundheitswesen in München schon vor 1940 sehr eng, also vor Beginn des Euthanasieprogramms. So kooperierte Steininger bei der Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen.

Schönbrunn habe der Münchner Verwaltung "als Vorbild, als Referenzpunkt" einer gelungen Zusammenarbeit mit dem Umland gegolten, sagte Annemone Christians auf dem Symposium.

Die Stadt München suchte während des Zweiten Weltkriegs ständig nach Ausweichorten für ihre Krankenhäuser, um diese vor Bombenangriffen zu schützen. Deswegen sollten die Bewohner von Schönbrunn weichen. Historikerin Christians ist es in ihrer Forschungsarbeit gelungen, eindeutig zu belegen, dass Steininger wusste, was mit diesen Menschen geschehen sollte. Die Mehrheit wurde im österreichischen Vernichtungslager Hartheim getötet.

Man müsse bei ihm von einer "gezielten Inkaufnahme" und von "Mitwisserschaft" ausgehen. Nun will es der Retter-Mythos, dass Steininger sich den Nationalsozialisten nur teilweise habe widersetzen können, um Schönbrunn insgesamt zu erhalten und vor dem staatlichen Zugriff zu sichern. Sollte dies seine Motivation tatsächlich gewesen sein, "zahlte er einen hohen Preis", sagte Christians.

Niemand wollte Leben retten

Als eine der ersten Münchner Kliniken wurde die Tuberkulose-Abteilung in den Landkreis Dachau verlegt. Mit ihr kam der damals junge Arzt Hans Joachim Sewering nach Schönbrunn und übernahm als Nebentätigkeit die Betreuung der geistig behinderten Frauen. Tanja Kipfelsberger hat als erste Historikerin überhaupt Zugang zum Archiv von Schönbrunn erhalten.

Sie hat 901 Einzelakten ausgewertet und die dahinter verborgenen Schicksale akribisch recherchiert. Sie fand in dem Archiv mit vielen Lücken - so fehlt die gesamte Korrespondenz mit dem Münchner Ordinariat - neun medizinische Blätter, auf denen Sewering die Deportation persönlich veranlasste und auch unterschrieb.

Als Grund führte er "Unruhe und störendes Verhalten" an. Vier der fünf Frauen wurden ermordet. Damals wussten alle Ärzte, dass ihre Unterschrift einem Todesurteil gleichkam. Darin waren sich die Historiker einig, die an dem Symposium teilnahmen. Auf der Basis der neuen und erstmals öffentlichen vorgelegten Fakten der beiden Doktorandinnen stellten Winfried Süß vom Zeitgeschichtlichen Institut in Potsdam und Gerrit Hohendorf, Medizinhistoriker an der Technischen Universität München, die Frage nach dem Handlungsspielraum für Einrichtungen behinderter Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus.

Süß skizzierte die ambivalente Rolle der katholischen Kirche. Einerseits wäre ohne sie das Gesundheitswesen zusammengebrochen. Zwei Drittel aller Krankenhäuser befanden sich in ihrem Besitz. Andererseits positionierte sich die Kirche gerade in den Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen eindeutig gegen das Euthanasieprogramm mit dem Titel "T4". Die Abkürzung stand für die Adresse der zuständigen Behörde in Berlin (Tiergartenstraße 4).

Mit anderen Worten: Im Protest gegen die Deportation behinderter Menschen boten die Kirchen durchaus Schutz. Wegen Galens Predigten stoppten die Nationalsozialisten kurzfristig das Programm, um es auf zynische Weise in den Einrichtungen selbst über Hungerhäuser und Medikamente fortzusetzen. Welche Handlungsspielräume hätten also Steininger oder Sewering gehabt?

Die Antwort blieb auf dem Symposium offen. Sicher ist nach den nun vorliegenden Forschungsergebnissen nur eines: Weder Steininger noch Sewering versuchten jemals Leben zu retten. Mehr als 1000 Menschen wurden aus Schönbrunn nach Haar-Eglfing oder in die Psychiatrie in Kaufbeuren deportiert. Nach dem bisherigen Stand der Forschung von Tanja Kipfelsberger überlebten 293.

In einer ersten Stellungnahme sagte Generaloberin Benigna Sirl: "Wir sind erschüttert." Nach einem persönlichen Gespräch mit Annemone Christians über ihre Kenntnisse zu Steininger und ihren Schlussfolgerungen wirkte sie sprachlos. Mit Sorge denkt sie auch an die Enttäuschung der älteren Schwestern, die den 1965 gestorbenen Prälaten noch gekannt hatten und deren Bild vom Beschützer endgültig in sich zusammengefallen ist.

Vor allem aber weiß Generaloberin Benigna Sirl, dass die Franziskanerinnen eine angemessene Form des Gedenkens finden müssen. Dass Steininger oder Sewering nach dem Krieg juristisch wie moralisch ungeschoren blieben, dass ihnen im Landkreis bis hin zu Vatikan und Bundesärztekammer mit unterwürfiger Ehrfurcht begegnet wurde, ist Folge der Marginalisierung der Opfer von Schönbrunn und vieler anderer Behinderteneinrichtung auch durch die Justiz.

Die unheilvolle Debatte über "unwertes Leben", die namhafte Juristen und Psychiater schon in der Weimarer Zeit entzündet hatten, wirkte unterschwellig in der Bundesrepublik nach.

Es ist die Aufgabe der Franziskanerinnen und des gesamten Franziskuswerks, diese Marginalisierung zu beenden. Darin waren sich die Teilnehmer des Symposiums einig. Die kleine Erinnerungstafel an der Kirche von Schönbrunn wird nicht ausreichen.

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