Erinnerungskultur:Durch Haidhausen mit Abba Naor

Lesezeit: 3 min

"Ich halte keine Vorträge, ich erzähle", sagt Abba Naor. (Foto: Arlett Ulfers)

Die 18-jährige Valerie Mentzel aus Altomünster und ihre Kommilitonin Lara Solbach verknüpfen in einem filmischen Streifzug Schauplätze in München mit der Geschichte des Shoah-Überlebenden. So wollen sie die Erinnerung wachhalten

Von Sophie Kobel, Dachau

Die blonden Haare unter einer schwarzen Mütze, der rote Rucksack auf dem Rücken, ein Buch in der Hand. So steht Valerie Mentzel auf dem Prinzregentenplatz in München. Die junge Frau aus Altomünster deutet auf das cremefarbene, mit Erkern und Balkonen versehene Gebäude hinter sich. "Vor 88 Jahren wohnte hier Adolf Hitler", spricht sie mit festem Blick in die Kamera. "Hier schlief, aß er, schmiedete Pläne, er fasste Gedanken, ließ es sich gut gehen. Heute befindet sich die Polizeiinspektion 22 im ehemaligen Hitler-Domizil. Ein Zuhause, ein Ort der Zuflucht, heute zumindest für die meisten." Cut. Der Bildschirm wird schwarz-weiß, leise Klaviertöne erklingen und werden leiser, man hört, wie eine andere Frau eine Passage aus dem Buch "Ich sang für die SS" von Abba Naor vorliest. Wenig später erscheint der Holocaust-Überlebende selbst auf dem Bildschirm und erzählt von seinem Leben. Mit 13 Jahren kommt er ins Ghetto in Kaunas in Litauen. Sein älterer Bruder wird erschossen, seine Mutter und der jüngere Bruder werden in Auschwitz ermordet. Er und sein Vater werden in die Dachauer KZ-Außenlager bei Kaufering deportiert. Befreit wird er als 17-Jähriger auf dem Todesmarsch, anschließend wandert er nach Palästina aus und kämpft dort im Unabhängigkeitskrieg nach der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948.

"Als wir bei Abba Naor angefragt haben, ob er Teil unseres Uni-Projektes sein möchte, hat er sofort zugesagt. Da wusste er noch nicht einmal, worum es genau ging. Das hat uns beide sehr beeindruckt", erzählt Valerie Mentzel. "Uns beide", damit meint sie ihre Kommilitonin Lara Solbach und sich. Die beiden lernten sich bei einem Seminar ihres Soziologiestudiums kennen. "Palastgarten der Geschichten" ist der Name des Projekts, das Valerie und Lara sich in ihrem Kurs über Kulturvermittlung umsetzen. Die Idee: Verschiedene Bücher von Münchner Verlagen sollen performativ, also in einer Mischung von Sprache und Handeln, kreativ dargestellt werden. Die beiden Frauen wählen das Unterthema "Erinnerungsliteratur" aus. Rund 17 Minuten dauert das Video, an dem die beiden über Wochen hinweg gearbeitet haben. Ihr Ziel: Die Zuschauer mit einer Mischung aus geschichtsträchtigen Orten des Münchner Viertels Haidhausen, vorgelesenen Stellen aus Naors Autobiografie und Ausschnitten ihres virtuellen Gesprächs mit ihm durch die Lebensgeschichte des Shoah-Überlebenden zu führen.

Start der Tour ist der Buchpalast am Max-Weber-Platz, auf der Website des Buchhandels ist das Youtube-Video auch zu finden. Für Valerie ist der Ort aber auch aus einem anderen Grund wichtig, wie sie in dem Video erzählt: "Bücher bringen uns dazu, uns zu erinnern und so aus der Vergangenheit zu lernen. Das ist sehr wichtig, finden wir, denn es gibt Erinnerungen, die nicht vergessen werden dürfen."

Valerie Mentzel und Lara Solbach haben zugehört und einen Film draus gemacht, der auf Youtube zu sehen ist. (Foto: Valerie Mentzel)

So zum Beispiel Abba Naors Ausführungen über die Chance zum Widerstand während seiner Zeit im Außenlager Kaufering I bei Dachau. Im Gespräch mit den beiden Studentinnen sagt der heute 92-Jährige: "Da kam es überhaupt nicht dazu. Aufstand womit? Wir waren so wenige, unterernährt, gedemütigt. Keine Kraft, man musste zwölf Stunden arbeiten in der Tages- oder Nachtschicht. Verpflegung fast null." Von einem Aufstand, der im Ghetto vielleicht noch möglich gewesen wäre, könne im KZ keine Rede mehr sein, liest Valeries Kommilitonin Lara aus Naors Buch vor: "Der Widerstand bestand darin, die mörderischen Absichten der Nationalsozialisten zu durchkreuzen, indem ich am Leben bleibe." Um diese Worte Naors durch eine Örtlichkeit bildhaft zu untermauern, haben sich Valerie und Lara für diese Sequenz das Georg-Elser-Denkmal auf dem Gelände des Gasteigs als Station ausgesucht. "Genau unter uns war der Ort des Geschehens", sagt Valerie und beschreibt den missglückten Sprengstoffanschlag Elsers auf Adolf Hitler im Bürgerbräukeller 1939.

Dass Valerie gerade mal 18 Jahre alt ist, merkt man ihr nicht an. Vor nicht einmal einem Jahr hat sie ihr Abitur am Ignaz-Taschner-Gymnasium in Dachau geschrieben, ein Moment ihrer dortigen Schulzeit hat sie zu dem aktuellen Projekt inspiriert: der Besuch von Abba Naor in der neunten Klasse. "Seine Erzählung hat mir damals die Augen geöffnet. Wir sind momentan in einer Zeit, in der es nicht mehr viele Zeugen gibt. Es ist so wichtig, das festzuhalten."

Lara und Valerie arbeiten seit ihrem Studienbeginn im Herbst 2020 an ihrem Video, es war von allen Seminaren und Klausuren mit Abstand das aufwendigste Projekt. "Das war nicht unbedingt eine typische Arbeit, die man im ersten Semester eines Studiums macht, ich glaube da gab es auch einen kleinen organisatorischen Fehler. Aber ich habe mich schon immer gerne in Projekte reingehängt", erzählt Valerie.

Eigentlich war die historische Stadtführung nicht virtuell geplant gewesen, doch aufgrund der Corona-Pandemie blieb den beiden Frauen nichts anderes übrig, als die persönliche Führung zu verschieben und das Interview via Zoom abzuhalten. "Ich will schließlich nicht einem Shoah-Überlebenden Corona einschleppen, der daran sterben könnte", sagt Valerie.

Sollte die Stadtführung im Sommer jedoch nachgeholt werden, könnte es sein, dass Abba Naor auch persönlich dabei sein wird. Für die beiden Studentinnen ist ein persönliches Treffen aber nicht ausschlaggebend. Sie haben ihre Botschaft bereits vermittelt, erzählt Valerie: "Ich hatte jetzt die Möglichkeit, ihm zu sagen, dass das Gespräch mit ihm in der neunten Klasse das lehrreichste aus meiner gesamten Schulzeit war. Und dass wir als Jugend immer noch für all das einstehen."

Video: www.youtube.com/watch?v=yg4Bu9UaBqY&feature=emb_logo

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