Film und Diskussion:Zukunftsvision Inklusion

Inklusion

Christine Friedl, Marianne Nickl, Darstellerin Jaqueline, Dagmar Böhme und Albert Sikora diskutieren über Inklusion.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Dokumentation "Die Kinder der Utopie" zeigt auf berührende Weise, dass Kinder mit und ohne Behinderung in der Schule gemeinsam unterrichtet werden können. Eine Elterninitiative wünscht sich, dass dies Alltag wird

Von Andreas Förster, Dachau

"Die Kinder der Utopie" ist ein wichtiger Film. Er macht deutlich, dass Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft, mancherorts keine Utopie mehr ist. Obwohl die Wirklichkeit oft noch ganz anders aussieht. Wie virulent das Thema ist, zeigte sich im beinah ausverkauften Dachauer Kino. Die Dokumentation von Regisseur Hubertus Siegert ("Berlin Babylon", "24 h Jerusalem") hatte schon im Vorfeld für mediale Aufmerksamkeit gesorgt, weil sie von verschiedenen Inklusionsbefürwortern in eine Kampagne eingebettet wurde.

So wurde der Film gleichzeitig in 170 Kinos in Deutschland gezeigt. Damit wollte man "frischen Wind in die verfahrene Inklusionsdiskussion" bringen, wie es der Berliner Inklusionsaktivist Raul Krauthausen formulierte. An jedem Ort wurde der Film von einem lokalen Paten präsentiert, dem das Thema am Herzen liegt. In Dachau übernahm die Elterninitiative Kunterbunte Inklusion, ein Projekt des Vereins Behinderte und Freunde, die Patenschaft.

Marianne Nickl von Kunterbunte Inklusion begrüßte die Gäste und moderierte das Gespräch zwischen Schulamtsdirektor Albert Sikora, dem Vorstandsmitglied des Netzwerks Inklusion Bayern, Christine Friedel sowie der Expertin für inklusive Krippen- und Kindergartentwicklung, Dagmar Böhme. Als Überraschungsgast konnte eine ehemalige Schülerin der integrativen Klasse 5d der Berliner Fläming Schule gewonnen werden, die Filmemacher Hubertus Siegert dokumentarisch für seinen Film "Klassenleben" ein halbes Jahr lang begleitet hatte. Auf der Dokumentation aus dem Jahr 2004 basiert der aktuelle Film "Kinder der Utopie". Darin besucht Siegert sechs ehemalige Fläming-Schüler, drei mit Behinderung und drei ohne. Wir sind im Jahr 2018 angekommen. Der Film begleitet die jungen Männer und Frauen, lässt sie von ihren Hoffnungen, Ängsten und geplatzten Träumen erzählen, konfrontiert sie mit Filmsequenzen von 2004 und beobachtet sie bei ihren gegenseitigen Treffen, meistens zu zweit, am Ende zu sechst. Im Film gibt es keinerlei Kommentierung, Wertung oder Einordnung für den Zuschauer. Das ist gut so. Jeder kann sich selbst ein Bild machen von sechs Menschen, die alle auf ihre Art besonders sind. Die sich eine Empathie füreinander erhalten haben und die nun ihren Platz und ihren Wert in der Gesellschaft suchen, wie jeder andere auch.

Jacqueline möchte ihren Nachnamen nicht nennen. Sie war 2004 in "Klassenleben" dabei. Mittlerweile studiert die 26-Jährige Medizin in München. Bei der Diskussion nach dem Film wird sie gefragt, was sie aus ihrer Schulzeit in einer Integrationsklasse mitgenommen habe. "Ich empfinde es bis heute als Bereicherung", sagte sie. "Für uns waren alle ganz normal, auch die mit Downsyndrom oder Lena, die einen Gendefekt hatte, an dem sie schließlich starb. Wir durften sie bis zum Tod begleiten." In der Klasse waren stets extra Pädagogen dabei, die die Kinder intensiv betreut haben.

Dagmar Böhme hält den Film "Die Kinder der Utopie" für sehr geeignet, Vorurteile gegenüber Menschen mit Handicap abzubauen. "Kinder sehen nur die Stärken und Schwächen untereinander und lernen, einander in den Schwächen zu unterstützen." An einer Stelle im Film sind sich Marvin und Johanna einig, dass sie die Bezeichnung "behindert" als entwürdigend, als ausgrenzend empfinden. Die beiden gehören zu denen, die eine Einschränkung haben. Keine sehr starke, aber dennoch gelten sie bei vielen als "behindert". Beim Zuschauer entsteht Verständnis dafür, dass sie verletzt sind. So ergeht es auch häufig Eltern von Kindern, die ein Handicap haben, sei es geistig oder körperlich oder beides. "Wir haben oft den Eindruck, allein zu sein oder mit unseren Anliegen gegen Wände zu laufen", sagt Marianne Nickl von Kunterbunte Inklusion.

Böhme plädiert dafür, bayernweit Inklusion von der Kinderkrippe bis zum Schulabschluss verbindlich einzuführen. Schulamtsdirektor Albert Sikora geht das dann doch alles etwas zu schnell. "Das Miteinander kann sehr wertvoll sein", sagt er, "darf aber die Lehrer nicht überfordern. Wir müssen alle mitnehmen." Als nächste Schritte schlug er vor, die Menschen weiter für das Thema zu sensibilisieren, Fortbildungen für das Lehrpersonal anzubieten und Beratungsstellen für Eltern einzurichten. Dagmar Böhme geht das nicht weit genug. "Es reicht nicht, die Schulen barrierefrei zu machen und ein paar Schulbegleiter in den Klassen zu erlauben", meint sie. "Es braucht ein Umdenken seitens der Politik, damit Fachpersonal ausgebildet und Geld dafür bereitgestellt wird." Christine Friedel vom Netzwerk Inklusion Bayern fordert gar eine "Geldstrafe für Diskriminierung von Minderheiten", um den Prozess des Umdenkens auch in der Gesellschaft zu stärken. www.diekinderderutopie.de

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