Süddeutsche Zeitung

Facettenreiche Jahreszeit:Die Poesie des Sterbens

Gerd Anthoff und Erwin Rehling interpretieren Wintergeschichten

Von Renate Zauscher, Odelzhausen

Es hat Zeiten gegeben, da gab es den Winter noch: nicht nur als Phase des Übergangs zwischen Herbst und Frühling, sondern als Jahreszeit mit eigenständigem, durchaus facettenreichem Charakter. Winter: das war übermütiges Kindervergnügen im Schnee ebenso wie eine Zeit des Sterbens. Es war - und ist - die Zeit der kurzen, dunklen Tage und auch der Ängste, die in den langen Nächten Gestalt annehmen, die Zeit auch der Bälle und des Karnevals. "Geschichten zur Winterszeit" heißt ein gemeinsames Projekt des Schauspielers Gerd Anthoff und des Musikers Erwin Rehling. Am vergangenen Freitag präsentierten sich Anthoff und Rehling in einer "Vorpremiere" des Projekts erstmals zusammen einem Publikum. In einer Veranstaltung von Kult A 8 traten sie in der Mittelschule Odelzhausen auf.

Gert Anthoff hatte für die Lesung Texte ganz unterschiedlicher Autoren zusammengestellt. Klassiker wie Kurt Tucholsky, Siegfried Lenz oder Oskar Maria Graf kommen dabei ebenso zu Wort wie etwa der 1971 geborene Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Jan Wagner oder Selma Meerbaum-Eisinger, eine Cousine von Paul Celan, die, aus Czernowitz stammend, im Zuge des Nazi-Terrors deportiert wurde und, nur 18-jährig, in einem Zwangsarbeitslager starb. Schon der Einstieg in das Thema "Winter" mit dem Gedicht "November" von Erich Kästner macht deutlich, mit welchem Vergnügen sich Anthoff auf die Suche nach Texten weitab von harmloser Winterlyrik begeben hat. Kästner schreibt in dem Gedicht vom "Trauerflor", den der November trägt, und fügt ironisch-makaber hinzu: "Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor."

Sterbezeit ist der Winter auch in Oskar Maria Grafs Kindheitserinnerung an den Tod der Großmutter, in deren Stube die Kinder so gern spielen, wenn es draußen kalt ist - und die just in dem Moment stirbt, als der älteste Graf-Bub den hinter ihrem Kissen versteckten Malzzucker stehlen will. Gemütlichkeit verkehrt sich in bodenlosen Schrecken - ein Stilmittel, das Anthoff ganz bewusst für seine Lesung gewählt hat. Gestorben, und zwar sehr poetisch, sehr leise, wird auch in einem Gedicht von Jan Wagner, das den Titel "Aus dem nordschwedischen Winter" trägt. "Irgendwann entschied er einfach stehen zu bleiben", heißt es über den Sterbebereiten, der zuletzt nur noch wahrnimmt, dass "sein Denken sich verzweigt" und "die Dinge sich von ihren Namen lösen."

Ganz anders dagegen Kurt Tucholsky: Seinem Protagonisten geht es nur darum, wo und wie er Silvester verbringt - und der dafür die Lösung eines erotischen Privatissimums findet. Theodor Fontane beobachtet mitleidsvoll einen armen Witwer in London, der einen "blühenden Ginsterbusch" als Christbaumersatz nach Hause trägt, und der norwegische Schriftsteller und Musiker Alf Proysen hat sich eine leicht verrückte Weihnachtsgeschichte über ein "vergessliches" Dorf ausgedacht. In Siegfried Lenz' Text "Denkzettel" spitzt sich das Geschehen zu einer ganz wörtlichen Explosion zu, während bei Robert Walser der Schnee in lautloser, gleichförmiger Stille zu Boden fällt und alles einhüllt.

Einer der Höhepunkte der Lesung ist der Jubelschrei des dreijährigen Hans Bergel, der, auf den Schultern seines Vaters sitzend, im verschneiten Wald der Karpaten, dem "Weihnachtsmann" begegnet: Gewaltig groß ist er, in zotteligen Pelz gehüllt, und aus Sicht des Vaters, der lautlos zum Gewehr greift, ein riesiger Karpatenbär. Das Glücksgefühl, den Weihnachtsmann leibhaftig gesehen zu haben, trägt den Buben und später den Erwachsenen durchs ganze Leben. Gerd Anthoff liest die ausgewählten Texte nicht nur, als Schauspieler verleiht er ihnen große Lebendigkeit. Er tut das im Wechsel mal gestenreich, mal verhalten, immer mit feinem Gespür für den atmosphärischen Gehalt eines Gedichts oder eines Prosastücks.

Mit Erwin Rehling hat Anthoff einen kongenialen Künstler an seiner Seite. Mit Schlagzeug und Marimba, einem Schellenbaum oder einem Steinspiel aus unterschiedlich großen Fliesenstücken, zaubert Rehling Klänge vom kraftvollen Sturmgebraus bis hin zu feinsten, leisesten, im Raum verklingenden Tonsequenzen. "Ich versuche, die Texte assoziativ weiterzuspinnen", sagt Rehling, und das, "was unausgesprochen zwischen den Zeilen steht, zu Wort kommen zu lassen." Das - leider nur kleine - Publikum verstand, wen es da vor sich hatte: Es lauschte den beiden Künstlern in konzentrierter Stille bis zum Ende.

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SZ vom 05.11.2018
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