Süddeutsche Zeitung

Erstes Zeitzeugengespräch:Ruths Geschichte

Erstmals spricht die Holocaust-Überlebende Ruth Melcer öffentlich vor Publikum. Mehr als 120 Besucher sind ins Karmel-Kloster in Dachau gekommen. Die Autorin eines bekannten Kochbuchs mit Rezepten ihrer Familie nimmt sie mit auf eine Reise durch eine untergegangene Welt

Von Helmut Zeller, Dachau

Das jiddische Lied Oifn Pripetschik gefällt den Besuchern im Meditationssaal des Karmel-Klosters, mehr als 120 sind gekommen, doch sie wissen nicht, welche bittersüßen Erinnerungen es in Ruth Melcer aufsteigen lässt. Als sie ein Kind war im polnischen Tomaszów Mazowiecki sang ihr Vater Aron Cukierman ihr dieses Lied abends vor dem Einschlafen vor. Die Violinen verstummen, und die 82-jährige Ruth Melcer hebt an, von ihrem Leben zu erzählen. Sie tut das vor einem öffentlichen Publikum das erste Mal. Erinnerungen an eine verlorene Welt, ausgelöscht von deutschen Truppen, die im September 1939 die Stadt Tomaszów, 55 Kilometer südöstlich von Łódź, besetzten. Von den etwa 13 000 jüdischen Bewohnern kehrten nach der Befreiung 1945 nur zweihundert zurück.

Vaters Schlaflied weckt bei Ruth Melcer nicht nur Erinnerungen an ihre Familie. Für sie hat der Text eine tiefe Bedeutung, die das Publikum nur annähernd verstehen kann. "Wenn ihr Kinder älter werdet, werdet ihr alleine verstehen, wie viel Tränen in den Buchstaben liegen, und wie viel Weinen. Wenn ihr Kinder in der Verbannung lebt, geplagt werdet, werdet ihr von den Buchstaben Kraft schöpfen, schaut sie euch an!" Die Erfahrung eines Volkes, das seit 2000 Jahren bis heute vom Hass verfolgt wird.

"Ich hatte nach dem Krieg Hassgefühle, aber wer hasst, zerstört sich selbst"

Ruth Melcer, eine elegante Frau, spricht mit klarer, fester Stimme. Sie lässt sich nicht anmerken, welchen Schmerz ihr das bereitet. Im Laufe des Abends ist ihr aber anzusehen, wie schwer die Erinnerungen auf ihr lasten. Sie hat, wie sie sagt, die Auschwitzprozesse in den Sechziger Jahren nicht verfolgt, schaut sich keine Dokumentationen an, hat nur zwei, drei Bücher über den Holocaust gelesen - "das alles fällt mir zu schwer". Was soll sie antworten, als ein Zuhörer fragt, ob sie vergeben habe können? "Auf Leute Ihres Alters habe ich keinen Groll. Ich hatte nach dem Krieg Hassgefühle, aber wer hasst, zerstört sich selbst."

Eine andere Antwort auf die Frage: Mirek. Ruths Bruder. Ein pausbäckiger, blond gelockter Junge mit blauen Augen - seiner Schwester sehr ähnlich. 1943 wurde er bei einer sogenannten Kinderaktion im Arbeitslager Bliżyn mit den restlichen kleineren Kindern verschleppt. Erst vor fünf Jahren hat Ruth Melcer erfahren, was mit Mirek geschah. Sie besuchte mit ihrer Familie Polen. Eine Historikerin führte sie in einen Wald, in dem Mirek erschossen worden ist. Er war sechs Jahre alt. Die Mutter Hanna hatte mit Mirek noch mitgehen wollen. Am Tor wurde sie aber zurückgehalten: "Du hast noch Zeit zu sterben. Du sollst noch arbeiten." Sie hat den Verlust ihres Sohnes nie verwunden.

"Ich hatte eine wunderschöne Kindheit", sagt Ruth Melcer, "ab zehn." Davor: Ghetto, Versteck bei einer polnischen Bäuerin für Geld, Arbeitslager und Auschwitz-Birkenau. Im Juni 1944 wurde die Familie in das Vernichtungslager deportiert und dort später auseinandergerissen. Dass Ruth überlebt hat, gleicht einem Wunder. Ein tschechischer Kapo, Olga mit Namen, nahm das hübsche Kind in ihre Obhut. Olga gab ihr zusätzliches Essen und versteckte sie vor Josef Mengele, der Kinder für seine menschenverachtenden Experimente suchte. Und dann war da noch die SS-Aufseherin, die mit Ruth Spaziergänge im Todeslager unternahm, ihr Lackschuhe schenkte, aber dem hungernden Kind kein einziges Stück Brot gab. Ruth Melcer rätselt noch heute über das bizarre Verhalten der SS-Frau, die nicht etwa aus Mitleid so gehandelt, sondern sich des wehrlosen, angsterfüllten Kindes wie eines Spielzeugs bemächtigt hatte.

Die Befreiung am 27. Januar 1945 erlebte die neunjährige Ruth auf sich allein gestellt. "Es war wie eine Fata Morgana", sagt Ruth Melcer. Die Rotarmisten glitten auf Skiern und in weißen Tarnanzügen durch die verschneite Landschaft zum Lager Birkenau. Ruth und andere Kinder, die überlebt hatten, wurden in Kutschen nach Krakau gebracht. Auf dieser Fahrt schwor sich Ruth Melcer: "Ich lass' mir nichts mehr gefallen." Das war auch gut so: Polnische Kinder beschimpften in dem Heim die Auschwitz-Überlebenden als "Saujuden" - der Antisemitismus in weiten Teilen der polnischen Bevölkerung war nicht mit den deutschen Besatzern verschwunden.

Ein polnisches Gesetz bestraft denjenigen, der den Polen "entgegen den Fakten" eine Beteiligung am Holocaust zuspricht, mit einer Geld- oder Haftstrafe bis zu drei Jahren. Die Fakten: Am 10. Juli 1941 verübten zum Beispiel polnische Bürger in Jedwabne ein Massaker an etwa 340 Juden. Ruth Melcer betrachtet, wie sie sagt, die Entwicklung in Polen, überhaupt in Europa, mit Sorge. Nach dem Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 - nach Kriegsende - beschloss die Familie, Polen zu verlassen. Inzwischen war die Familie - bis auf Mirek - wieder in Tomaszów Mazowiecki vereint. Die Mutter Hanna war aus dem Konzentrationslager Ravensbrück zurückgekehrt, einige Monate später der Vater, der an Typhus erkrankt war, aus Bergen-Belsen. Ihre christlichen Nachbarn reagierten auf die Überlebenden nicht gerade erfreut. Auf die Frage eines Zuhörers, warum die Familie sich gerade für Deutschland entschieden habe, erklärt Ruth Melcer, wir haben uns nicht entschieden, wir sind geflüchtet, die Briten verwehrten den Juden die Einwanderung nach Palästina und die USA nahmen nur eine beschränkte Zahl von Juden auf.

"Ruths Kochbuch - Die wunderbaren Rezepte meiner jüdischen Familie"

Über mehrere Stationen ging es nach Berlin in ein DP-Lager, dann, 1948, nach München. Ruth Melcer lernt am Hebräischen Gymnasium. Englisch, sagt sie, hat sie im Kino gelernt, mit Hilfe der deutschen Untertitel. Als die Schule 1951 schloss, wechselte Ruth auf die Mädchenoberrealschule am St. Annaplatz im Lehel. Unter den Lehrern sind viele alte Nazis - auch in Deutschland hat der Antisemitismus überlebt. Kirchenrat Björn Mensing, Pfarrer an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, moderiert das Gespräch. Er erklärt, dass fast alle Lehrer, die als belastet eingestuft worden waren, 1950 und 1951 in den Schuldienst zurückkehrten. Sie behandelten Ruth schlecht. Deshalb schickten die Eltern sie zum Schulabschluss nach Tel Aviv zu Verwandten. Da die Eltern nicht nachziehen konnten, kehrte Ruth 1954 nach Bayern zurück und machte eine Ausbildung zur Chemielaborantin. Schließlich lernte sie ihren inzwischen verstorbenen Mann Jossi kennen, mit dem sie nach Augsburg zog und drei Kinder bekam. Heute lebt sie wieder in München.

2015 wurde Ruth Melcer bekannt. Sie schrieb gemeinsam mit Ellen Presser "Ruths Kochbuch - Die wunderbaren Rezepte meiner jüdischen Familie", in dem sie erstmals die Verfolgungsgeschichte ihrer Familie veröffentlichte. Die Texte von Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die Rezepte und Illustrationen sowie Familienfotos lassen die verlorene Welt des polnischen Judentums aufleben - mit fast 3,5 Millionen Menschen einstmals das Herzland der jüdischen Diaspora. Auch das Buch weckt das Interesse der Besucher und der Mitglieder des Kammermusikensemble aus der 10. bis 12. Jahrgangsstufe des Ignaz-Taschner-Gymnasiums unter Leitung von Jutta Wörther (Viola). Anna Helfer, Julia Neumann, Eva Reisky und Miriam Verweyen (Violine), Linda Nitsche (Flügel) sowie Rebecca Desaga (Querflöte) und Michael Burkner (Fagott) sind fasziniert von Ruth Melcer und nehmen schüchtern ihren Dank für Oifn Pripetschik an.

Selbst ein guter Freund, sagt Melcer, habe 20 Jahre lang nicht gewusst, dass sie Auschwitz überlebt habe. Aber dann hat sie ihr Schweigen gebrochen. "Ich habe mir gedacht, jetzt, da meine Eltern tot sind, habe ich die Pflicht, das zu erzählen, was ich weiß. Das Bisschen." Es war dann doch viel mehr - und eine nachdrückliche Mahnung: "Nicht wegschauen!" Der Erfolg einer Partei wie der AfD mache sie, sagt Ruth Melcer, am Ende ihres Lebens traurig. "Ich weiß nicht, was noch auf uns zukommt."

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SZ vom 12.02.2018/lela
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