Süddeutsche Zeitung

Zeitgeschichte:Erste Professorin für Holocaustforschung

In Dachau war die Schönbrunnerin Sybille Steinbacher wegen ihrer Enthüllungen lange Zeit nicht gern gesehen, jetzt erhält sie einen Lehrstuhl in Frankfurt

Von Walter Gierlich, Dachau

Mit ihrer Magisterarbeit, die 1993 als Buch veröffentlicht wurde, hatte Sybille Steinbacher seinerzeit für erhebliches Aufsehen gesorgt: "Dachau - die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit". Die 1966 geborene Historikerin hat sich damit zu Beginn der Neunzigerjahre viele Feinde in Dachau gemacht, entlarvte sie doch so manches, was man sich hier jahrzehntelang über die Beziehungen zwischen KZ und Stadt erzählt hatte, als schöne Mär. Spätestens seit ihrer Dissertation 1998 über die "Musterstadt Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien" galt sie im Kreis der Zeitgeschichtler als ausgewiesene Expertin für die Shoah. Folgerichtig ist sie nun auf den bundesweit ersten Lehrstuhl zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocausts an der Frankfurter Goethe-Universität berufen worden.

Am 1. Mai tritt sie die Stelle an und übernimmt zugleich die Leitung des Fritz-Bauer-Instituts, benannt nach dem früheren hessischen Generalstaatsanwalt, dessen Name vor allem mit dem ersten großen Auschwitz-Prozess verbunden ist. "Wir freuen uns sehr, dass diese bedeutende Professur nun mit einer besonders ausgewiesenen Expertin besetzt werden kann", sagte Hessens Wissenschaftsminister Boris Rhein, nachdem im Dezember 2016 die Entscheidung über die Berufung gefallen war.

Das eine Dachau - das andere Dachau

Steinbacher wuchs in Schönbrunn auf, in Sichtweite zur dortigen Behindertenanstalt. In der Nazizeit wurden Behinderte im Zuge des NS-Euthanasieprogramms von dort aus in den Tod geschickt. Während ihres Studiums in München war Steinbacher Praktikantin an der KZ-Gedenkstätte Dachau, später Stipendiatin am Institut für Zeitgeschichte in München und am Deutschen Historischen Institut in Warschau. 1997 wurde sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin und bald auch Assistentin an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie 1998 mit ihrer Studie über Auschwitz promovierte. Es folgte das weitere Standardwerk "Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte". Nach einem Jahr an der Harvard-Universität in den USA folgte Sybille Steinbacher 2005 ihrem Chef, dem Zeithistoriker Norbert Frei, als Wissenschaftliche Assistentin an die Universität Jena. Im Januar 2010 wurde sie habilitiert mit der Studie "Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik". Im selben Jahr lehrte sie als Gastprofessorin des Fritz-Bauer-Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Universität Frankfurt, ehe sie im Oktober ihr Amt als Universitätsprofessorin für Zeitgeschichte in Wien antrat, einen Posten, den sie nun zum großen Bedauern ihrer Kollegen in Österreich in Richtung Frankfurt am Main verlässt.

Als Sybille Steinbacher im Jahr 1993 ihre Untersuchung über die Stadt Dachau und das Lager vorlegte, war die hiesige Bürgerschaft noch tief gespalten, sprach man vor allem in konservativen Kreisen von dem "einen und dem anderen Dachau". Das "eine Dachau", das weltweit zum Inbegriff für die Schrecken der Naziherrschaft geworden war, in dem Heinrich Himmler das erste Konzentrationslager errichtet hatte, wurde als Fremdkörper betrachtet, als etwas, das den Dachauern aufgezwungen worden war und mit dem sie nichts zu tun gehabt hatten. Das "andere Dachau" hingegen, dessen Erbe es zu bewahren galt, war der Jahrhunderte alte Marktort am Rande des Mooses, die Künstlerstadt, in der sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Maler niedergelassen hatten, des Lichts und der Natur wegen.

Wie sehr sich die Stimmung in der Dachauer Bürgerschaft und der Kommunalpolitik seit den Neunzigerjahren gewandelt hat, zeigt die Tatsache, dass Sybille Steinbacher von der Stadt seit 2012 mit der Organisation der jährlich stattfindenden Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte betraut wurde, einer Reihe, die längst überregionale Anerkennung unter Experten findet.

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SZ vom 11.04.2017
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