Süddeutsche Zeitung

Erinnerung an die ersten Häftlinge des Konzentrationslagers:Ein Europäer in Dachau

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz enthüllt eine Gedenktafel für die sozialdemokratischen Opfer des Naziregimes und verspricht, die Pflege der KZ-Gedenkstätten im Koalitionsvertrag festzuschreiben - wenn er denn kann.

Von Viktoria Großmann, Dachau

Was sind schon 72 Jahre für eine Partei, die 154 Jahre alt ist? So lange hat es gedauert, bis nun auch an die Sozialdemokraten unter den Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau auf einer eigenen Gedächtnistafel an der KZ-Gedenkstätte erinnert wird. Dass diese Tafel im Gedenkraum ausgerechnet zwei Monate vor der Bundestagswahl vom Kanzlerkandidaten und SPD-Vorsitzenden Martin Schulz am Freitagnachmittag offiziell eingeweiht wird, hat mit etwas behäbigen Abläufen zu tun, sodass man eher zufällig ins Wahljahr 2017 geriet. Aber jetzt ist nun mal Wahlkampf, also bleibt Martin Schulz eine Aussage zum nächsten Koalitionsvertrag, den er fest entschlossen ist, mit zu unterzeichnen, nicht schuldig: "Mittel für die Erhaltung der KZ-Gedenkstätten in Europa werden im nächsten Koalitionsvertrag fest geschrieben, das sage ich Ihnen zu."

Nun war Martin Schulz lange in Brüssel und hat vielleicht nicht mit bekommen, dass auch frühere Koalitionsverträge und auch der von 2013, an dem die SPD als Juniorpartner mitgeschrieben hat, dazu bereits klare Bekenntnisse enthielten. Aus seinem Tross aus Genossen der Basis, Landtag und Landesvorstand sagt ihm das auch keiner. Stattdessen erklärt Bundestagskandidat Michael Schrodi, er werde sich direkt in Berlin darum kümmern und auch die stellvertretende Landrätin Marianne Klaffki, mahnt gleich an, dieses Versprechen doch bitte einzuhalten. Klaffki betont oft, dass nach ihren Vorstellungen der Kräutergarten endlich Teil des Lern- und Erinnerungsortes werden muss. Mittel dafür fehlen bisher.

Schulz hat vielleicht den Text des Koalitionsvertrages nicht auswendig gelernt, aber er weiß sehr wohl, wovon er redet. In Dachau lässt er sich von Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann durch die Ausstellung führen, hört zu, sieht sich ein paar Exponate näher an und erwähnt erst ganz zum Schluss Besuche in Auschwitz und Theresienstadt. Er erklärt, dass die Gedenkstätte Dachau Mittel für einen Seminarraum brauche und dass Erinnern eine europäische Verantwortung sei und somit auch der Erhalt von Gedenkstätten. Er spricht von einem "europäischen Netzwerk der Erinnerungsstätten, die mit gegenseitiger Unterstützung realisiert" werden müssten. Mit Gesprächspartnern in Theresienstadt, also in Tschechien, komme man da deutlich besser zusammen als in Polen unter seiner Ministerpräsidentin Beata Szydło, wie er besorgt anmerkt.

"Demokratie kommt nicht wie Strom aus der Steckdose"

Der Zustand der Demokratie dort wie auch Äußerungen etwa des Thüringer AfD-Landtagsabgeordneten Björn Höcke, der sich gegen die deutsche Erinnerungspolitik ausspricht, treiben Schulz um. Auch wenn er den Namen des Abgeordneten und den seiner Partei nicht ein einziges Mal ausspricht. "Ginge es nach solchen Leuten, dann wäre diese Veranstaltung hier nicht nur unnötig, sie wäre sogar störend." Schulz erinnert an seine großen Vorgänger im Amt als Parteivorsitzender: Kurt Schumacher, Otto Wels, Willy Brandt. Alle im Widerstand aktiv. Schumacher und Wels verweigerten 1933 als Reichtagsabgeordnete ihre Stimmen zu Hitlers Ermächtigungsgesetz. Schumacher wurde bald danach erstmals inhaftiert, er war unter anderem Häftling im KZ Dachau. Schulz hat sich von Josef Felder, der ebenfalls als SPDler KZ-Häftling in Dachau war, schildern lassen, wie das damals war, als sich die Sozialdemokraten im Reichstag entschlossen, gegen Hitlers Gesetz zu stimmen. "Sie haben diesem Menschen in die Augen geschaut und mit ihrem Nein ihr eigenes Leben und das ihrer Familien aufs Spiel gesetzt." Dass ihn als Nachkriegskind in seinem ganzen Leben bisher niemand zu solchen Entscheidung zwingen konnte, habe er diesen Menschen zu verdanken. "Demokratie kommt nicht wie Strom aus der Steckdose, sie muss jeden Tag verteidigt werden."

Schulz spricht lang und völlig frei. Er erinnert auch an die großen Opfer, welche die Alliierten brachten, um den Deutschen Freiheit zu bringen und Demokratie zu ermöglichen. "Wir werden oft verführt, im Zorn zu pauschalisieren", sagt Schulz. Doch gerade in Zeiten diplomatischer Schwierigkeiten mit den USA solle man sich an die Leistung etwa der jungen Männer aus der Rainbow-Division, welche die Häftlinge des Konzentrationslagers am 29. April 1945 befreiten, erinnern. Dann gilt es noch, sich vor einer Gedenktafel aufzustellen, die schon seit einem halben Jahr im etwas vollgestopften Gedenkraum hängt und bisher nicht beachtet wurde. Ein Kranz aus feuerroten Blumen muss am Mahnmal niedergelegt werden, Schleifen werden gezupft und Köpfe gesenkt. Dann drängt sich noch mal jeder um den Kandidaten: Landtagsabgeordnete, Möchtegern-Berliner, jeder will was loswerden. Nur einer bleibt im Hintergrund und nimmt still die Früchte seiner Mühe entgegen: der Dachauer AWO-Kreisvorsitzende Oskar Krahmer, der sich jahrelang um die Tafel bemühte. "Die SPD ist nicht nur eine traditionsbewusste, sie ist auch eine traditionsbeladene Partei", hatte Schulz gesagt. Und sie hat nicht immer ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. Schulz hat das Beste daraus gemacht. Für alle anderen ist offenbar: Wahlkampf.

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SZ vom 22.07.2017/gsl
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