Erinnerung an den Psychiater Viktor Frankl:"Er erhielt sich seine Würde"

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Viktor Frankl überlebte Theresienstadt, Auschwitz und zuletzt ein Außenlager des KZ Dachau. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet. Doch statt anzuklagen predigte der Psychiater Versöhnung. Nun erinnert seine Schülerin Elisabeth Lukas an den außergewöhnlichen Mann.

Interview von Anna-Sophia Lang, Dachau

Vor 70 Jahren wurde Viktor Emil Frankl aus dem Außenlager des KZ Dachau in Türkheim befreit. Die Logotherapie und Existenzanalyse des weltberühmten Psychiaters gilt neben Sigmund Freuds und Alfred Adlers Theorien als Dritte Wiener Schule der Psychotherapie. Frankl überlebte Theresienstadt, Auschwitz und zuletzt Türkheim. Seine gesamte Familie wurde von den Nazis ermordet. Statt anzuklagen predigte er Versöhnung. Sein autobiografisches Werk ". . . trotzdem ja zum Leben sagen" wurde weltweit über neun Millionen mal verkauft. Ihm zu Ehren organisiert das Viktor Frankl Institut Wien eine zweitägige Gedenkveranstaltung im Schloss Dachau. Mit dabei sein wird auch Elisabeth Lukas. Die renommierte Psychologin und Logotherapeutin, die heute in Österreich lebt, hat bei Frankl studiert. Die SZ sprach mit ihr über Frankls Zeit im KZ, menschliche Entscheidungsfreiheit und den Sinn des Lebens.

SZ: Frau Lukas, was ist das Besondere an Viktor Frankls Psychotherapie?

Elisabeth Lukas: Frankl fragt nicht danach, warum jemand seelisch krank wird, sondern nach einem Grund zur Gesundwerdung. Also: Was ist ein Motiv, um eine Schwierigkeit zu überwinden? Schon vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Nervenarzt und Psychiater, unter anderem mit selbstmordgefährdeten Frauen. Ganz neu damals war, dass er Kontrolluntersuchungen machte, um seelisch kranke mit seelisch gesunden Menschen zu vergleichen. Dabei stellte er fest, dass beide Gruppen gleich viele Traumata hatten. Obwohl sie sich also in ihren Vorgeschichten nicht wesentlich unterschieden, waren die einen gesund und die anderen nicht. Bei dieser Erkenntnis ließ Frankl Freuds These, dass die Vorgeschichte der Ursprung aller seelischer Krankheit ist, fallen.

Elisabeth Lukas, 1942 in Wien geboren, zählt zu den renommiertesten Psychotherapeuten der Logotherapie und Existenzanalyse. (Foto: Archiv Wien)

Was war laut ihm dann der Ursprung?

Der Sinn, den die einen in ihrem Leben sahen und die anderen nicht. Ein solcher Sinn kann nicht willkürlich gesetzt werden, den muss jeder für sich "herausspüren". Wenn sich zum Beispiel ein Politiker hinstellt und sagt: "Mein Sinn besteht darin, das Nachbarland zu bombardieren, weil es da Öl gibt", ist das nicht der Sinn, den Frankl meint. Laut ihm haben Menschen ein "prämoralisches Wertverständnis", das anspringt, bevor anerzogene Werte ins Spiel kommen. Er spricht von einer Art Sinn-Organ, das uns Sinn ahnen lässt. Wenn Menschen Sinn sehen, sind sie geschützter vor seelischen Krankheiten.

Hat Frankl deshalb das KZ überlebt?

Natürlich gehörten dazu Glück und andere Umstände. Aber Frankl hat auch überlebt, weil er für etwas lebte. Viele Häftlinge im KZ sind an der Resignation gestorben.

Worin sah er seinen Sinn?

Im KZ musste er die eigenen Theorien in der Praxis leben, sich von dem Grauen innerlich distanzieren. Seinen Sinn sah er darin, anständig zu bleiben und sich seine Würde zu erhalten - es gab ja zum Beispiel auch Häftlinge, die vor lauter Verzweiflung das Brot ihrer Mithäftlinge geklaut haben. Kurz vor seiner Befreiung erkrankte Frankl am Fleckfieber. Er wusste, wenn er einschläft, wacht er nicht mehr auf. Und dass er sich nur wachhalten kann, wenn er einen Sinn hat. Da fing er an, sein Buch "Die ärztliche Seelsorge" zu schreiben.

Welche Rolle spielt diese Zeit für seine Theorie?

Im KZ hat Frankl erlebt, dass es eine Instanz im Menschen gibt, die über das Physisch-Psychische hinaus "dagegenhalten" kann. Eine geistige Dimension, die den Menschen über den Tellerrand hinausschauen lässt. Die ihn veranlasst, nicht nur aus Eigenbedarf zu handeln. Im KZ waren alle Häftlinge dem gleichen Hunger ausgesetzt, hatten die gleiche Gier nach Brot. Trotzdem haben sich manche entschieden, ihr Brot mit anderen zu teilen. Für Frankl hieß das: Ein kleiner Teil Entscheidungsfreiheit bleibt dem Menschen in jeder Situation, egal, wie schlecht es ihm geht. Bei gleicher Vorgeschichte und Lebenssituation treffen Menschen unterschiedliche Handlungsentscheidungen. Das ist etwas spezifisch Humanes, und es hat eine ganz personale Dimension. Rückblickend kann man alles erklären, aber prospektiv nicht. Die Menschen sind immer wieder für eine Überraschung gut. Das finde ich sehr tröstlich.

Das gilt auch für Frankls Umgang mit dem Erlebten.

Er hat buchstäblich den Häftlingskittel aus- und den weißen Arztkittel angezogen. Er hat sich um seine Patienten gekümmert, unabhängig davon, wer früher ein Parteibuch besessen hat. Er hat sich nicht fesseln lassen von den dramatischen Erlebnissen im KZ. Schon bald nach seiner Befreiung wurde er zum Vorstand in der Neurologischen Poliklinik Wien berufen. Dort lernte er seine zweite Frau Elfriede kennen, die als Krankenschwester arbeitete.

Und er hat immer gegen eine "Kollektivschuld" der deutschen Bevölkerung argumentiert.

Frankl sagte: Es kann keine kollektive Schuld geben, wenn es keine kollektive Freiheit und Verantwortung gibt. Jeder Mensch hat diesen gewissen, persönlichen Entscheidungsspielraum. Wenn er sich entscheidet, etwas Sinnvolles zu tun, ist das auch sein persönlicher Verdienst. Wenn er das Gegenteil tut, ist das seine persönliche Schuld. Es gab ja auch einige, die zum Beispiel Juden versteckt haben. Man kann kein ganzes Volk verdammen.

Wie hat Frankl verarbeitet, was er im KZ erlebt hat?

Die Schauerbilder sind ihm lange nachgegangen. Irgendwann wurde ihm klar, dass er das Erlebte nur verarbeiten kann, wenn er es nach außen verlagert, damit es nicht mehr in seiner Seele steckt. In neun Tagen hat er "...trotzdem ja zum Leben sagen" runtergeschrieben. Es ist nicht nur ein Erlebnisbericht, sondern hat auch eine berufliche Perspektive. Für Frankl war das Traumabewältigung.

© SZ vom 26.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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